Buchempfehlungen von Janet Kinnert #1

Janet Kinnert © Janet Kinnert/ kultur24.berlin

Buchempfehlungen von Janet Kinnert #1

 

Von Janet Kinnert

13.05.2019

Kaffee und Zigaretten von Ferdinand von Schirach

„Ich war damals schon über zehn Jahre Strafverteidiger, aber erst dort im Kino habe ich zum ersten mal ganz verstanden, was Schuld eigentlich ist. Die Psychologen und Psychiater sagen, es gebe keine Schuld, sie denken, solche Sätze würden helfen, und vielleicht tun sie das auch. Aber es stimmt nicht. Wir werden schuldig, an jedem einzelnen Tag.“ Ferdinand von Schirach

Einen „außegewöhnlichen Stilisten“, nannte der Independent den ehemaligen Strafverteidiger und vielfach ausgezeichnete Schriftsteller.
Der Daily Telegraph bezeichnete ihn als „eine der markantesten Stimmen der europäischen Literatur“. Ferdinand von Schirach würde vermutlich schmunzelnd duckend entgegenen, dass es sich wohl um eine Verwechslung handeln müsse, dankend nicken und nach seiner Kaffeetasse greifen.
Nach Erzählbänden wie „Schuld“ und „Verbrechen“, seinen Romanen „Der Fall Collini“ und „Tabu“, sowie seinem Theaterstück „Terror“ erschien das nun wohl persönlichste Werk Ferdinand von Schirachs.

„Mark Twain soll gesagt haben, dass er auf den Himmel verzichte, wenn er dort nicht rauchen dürfe. Er hatte recht“,
schreibt von Schirach, für den eine Zigarette mehr ist als ein Laster: Ein regelmäßiges „memento mori“, die Erinnerung des eigenen Daseins im Tod.
„Kaffee und Zigaretten“ ist eine nüchterne Verwebung an Einzelstücken: Beobachtungen, die kommentarlos verweilen, biographische Einblicke, Notizen aus Rechtsfällen, subtile Begegnungen, absurde Erfahrungen und Nachdenken über die Einsamkeit des Menschen, über Melancholie und ironischer Spiegelung.

Wir müssen verstehen, wie wir wurden, wer wir sind. Und was wir wieder verlieren können. Als sich unser Bewusstsein entwickelte, sprach ja nichts dafür, dass wir einmal nach anderen Prinzipien handeln würden als unsere Vorfahren, die Affenmenschen.
Wäre es nach den Regeln der Natur gegangen, hätten wir unsere erweiterten Fähigkeiten dazu benutzt, die Schäwcheren zu töten. Aber wir taten etwas anderes. Wir gaben uns selbst Gesetze, wir erschufen eine Ethik, die nicht den Stärkeren bevorzugt, sondern den Schwächeren schützt. Das ist es, was uns im höchsten Sinn menschlich macht: die Achtung vor unserem Mitmenschen.

Vor wenigen Menschen habe ich so viel Respekt wie vor dem so hochgradig intelligenten und doch bescheidenem Schriftsteller, der von sich selbst sagt, er habe keine sonderliche Begabung darin, glücklich zu sein:
„Die langsamen Tage meiner Kindheit, der Rauch der Zigaretten meines Vaters, das Bernsteinlicht der weichen Sommerabende – diese Welt ist nur noch in mir“, schreibt er genau so schmerzlich leicht wie „Aber der Natur, dem Leben, dem All, bedeuten diese Begriffe nichts. […] Ist es nicht mögich, dass wir uns irren?
Wir wissen es nicht. Wir müssen uns also damit abfinden, dass es genauso töricht ist, zu sagen, das Leben habe einen Sinn, wie das Gegenteil.“

Mit Referenzen auf Frost („The woods are loverly, dark, and deep, / But I have promises to keep, / And miles to go before I sleep, / And miles to go befire I sleep.“),
Godard, Kästner („Die Vergangenheit muss reden, und wir müssen zuhören. Vorher werden wir und sie keine Ruhe finden.“)
Eichendorff („Wir sehnen uns nach Hause. / Und wissen nicht, wohin?“),
Sokrates, Hemingway und Camus – trifft von Schirach mit jedem Zitat, mit nahezu jedem Gedanken verwundbare Stellen in der eigenen Gedankenwelt und lässt einen durch seine Präzision und Vielschichtigkeit schweigend zurück.
Das klügste, grandioseste, faszinierendste und traurigste Buch, das ich in den letzten Jahren gelesen haben.

„Kaffee und Zigaretten“ von Ferdinand von Schirach im Luchterhand Verlag

„Kaffe und Zigaretten“ von Ferdinand von Schirach @ Luchterhand Verlag

Unter der Haut von Gunnar Kaiser

„Da verstand ich sie zum ersten Mal wirklich – die Geste, die mir schon in Pedro’s Diner und später in seiner Bibliothek aufgefallen war, wenn er ein Buch in den Händen hielt, es liebkoste und ihm schmeichelte, wenn er über seine Oberfläche streichelte, als wäre es lebendig und von feinen Nerven durchzogen.
Er berührte die Bücher, als könnten sie fühlen.
Wenn Eisenstein Zeit hatte, so wie an diesem stillen Sommerabend unter Tage, ertastete er all die Körper, derer er habhaft werden konnte, mit äußerster Sorgfalt und Zartheit von oben bis unten, außen und innen. Als erführe er diese Art anders, als es je einem Menschen vergönnt war.“
Gunnar Kaiser

Wenige Tage nachdem ich mit der Netflix Serie „You“ der Machenschaften des Buchhändels und Stalkers Joe Goldberg entkommen war, stieß ich auf den Roman, der schon sehr lange auf meiner Leseliste stand und erkannte ein Muster in meinem Geschmack an Tropus:
„Unter der Haut“ von Gunnar Kaiser beginnt im historisch eingebetteten New York Ende der 1960er Jahre und erzählt die Geschichte eines bibliophilen Mörders.

Man erlebt den Sommer des jungen Literaturstudenten Jonathan Rosen, auf der Suche nach dem „definitiven Mädchen“, das er sich in der Hitze seiner Jugend erträumt.
Durch Zufall lernt er den sehr viel älteren Josef Eisenstein kennen und baut schnell Faszination für den kultivierten Mann auf, der schnell zu seinem Lehrmeister und Mentor wird. Eisenstein bringt dem jungen Mann die Welt der Bücher und Ideen nah und nicht zuletzt die Kunst der Verführung schöner Frauen. Sehr viel schneller als der naive Protagonist erkennt der Leser, das etwas nicht zu stimmen scheint, doch was genau, wird lange nicht gelüftet.

Ein Roman, der einen mit seiner Poesie, Obsession, Gewalt, seiner Verführungen und Ermächtigungen durch seine Vielschichtigkeit schon in den ersten Kapiteln in seinen Bann zieht und einen von da an nicht mehr loslässt.
Spaziergänge in den Straßen eines heißen Hochsommers, das Berühren wertvoller Buchrücken, Voyeurismus im Atelier, eine Folge brutaler Morde, ein Sinnieren über die Beschaffenheit der Welt und ein Erblicken der dunkelsten Stellen der menschlichen Seele. Man merkt an Kaisers Debütroman, dass der Autor die Welt der Bücher nicht nur schätzt, sondern sich in ihr auch auskennt.
Ein unterhaltendes Konglomerat an Jean- Baptiste Grenouille aus Süskinds „Das Parfum“, ein Hauch von „Das Schweigen der Lämmer“ und eine Hinwendung in das Berlin der 1990er.

„Stell dir vor“, hörte ich schließlich sein Flüstern, „die ganze Welt bestünde aus Büchern.“ Die Vorstellung fiel mir nicht schwer.
„Das wäre schrecklich, nicht wahr? So schrecklich, wie wenn es keine Bücher gäbe. Die Welt lebt im Spalt dazwischen, den die Bücher uns lassen.“

„Unter der Haut“ Gunnar Kaiser Berlin Verlag / Piper Verlag

„Unter der Haut“ von Gunnar Kaiser @ Berlin Verlag/ Piper Verlag

Author: Janet Kinnert

Janet Kinnert ist studierte Philosophin und Literaturwissenschaftlerin und als freie Autorin tätig.
Für Online Medien, ihren Blog Sans Mots und das betterblogs Netzwerk schreibt Janet soziale Betrachtungen und Artikel mit den Themenschwerpunkten Politik, Gesellschaft, Angewandte Ethik und Kultur.“
Blog: www.sans-mots.blogspot.com

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