Die Bücher Tipps im März 2020

Die Bücher Tipps im März © Wagenbach/ Hanser/ Weidle/ Rowohlt

Die Bücher Tipps im März 2020

 

Von Jörg Braunsdorf


19.03.2020

Heimat, Identität und Dystopie in ernsten Zeiten.

Fünf Bücher Tipps zu diesen aktuellen Themen

„ewig her und gar nicht wahr“, Marina Frenk, Wagenbach Verlag
Marina Frenk lebt in Berlin und legt im Wagenbach Verlag mit ihrem Debutroman „ewig her und gar nicht wahr“eine fulminante Familiengeschichte vor.
Im Dezember war Vorablesung in einem russischen Lokal im Prenzlauer Berg mit Wodka und Borscht.
Das Buch erzählt die Geschichte einer moldawischen jüdischen Familie über 3 Generationen.
Moldawiens Wirklichkeit und Zerissenheit zwischen rumänischen und russischen Einflußzonen.
Und eigentlich ist es der moldawische Wein, der Selbstvertrauen vermittelt.
Diese Erzählung ist eine dynamische Geschichte, verkörpert durch die Großeltern und die Eltern der Protagonistin Kira, die als kleines Kind mit ihren Eltern nach Deutschland auswandert.
– Ruhrgebiet – Folkwang – Berlin – Gorki – Theater – Musik –
Heimat ist dort wo man lebt? Jedenfalls zieht Kira für das Leben in Deutschland Kraft aus den familiären Turbulenzen der osteuropäischen Vorgeschichten.
„ewig her und gar nicht wahr“, der Titel des Buches, ist ein russisches Sprichwort. Ein ungewöhnlicher Titel für ein eingewöhnliches Buch.
Es bedeutet soviel wie „Bitte lasst mich in Ruhe, das ist ewig her und gar nicht wahr“.
Es geht um Wertvorstellungen, was richtig ist und was falsch, wie Leben geht und wie Leben nicht geht.
Konflikte, die man ab dem Teenageralter durchmacht.
Der Roman ist eine flüssige Erzählung und doch stockte mir bei dem Talent der Autorin, Stimmungen und Situationen in einer Radikalität auszudrücken, beim Lesen manchmal der Atem.
Was tun? Luftholen und atemlos weiterlesen!

Marina Frenk „ewig her und gar nicht wahr“ © Wagenbach Verlag

„Hawai“, Cihan Acar, Hanser Verlag
Cihan Acar´s Debutroman “Hawaii“, erschienen im Hanser Verlag, erzählt von einem Sommerwochenende in Heilbronn.
Ausgerechnet Heilbronn?
Der Autor lebt in Heilbronn im Stadtteil Hawaii, welches das Berliner Kreuzberg von Heilbronn darstellt – ein Pulverfass.
Leider hat das Virus unsere geplante Lesung am 2. April gekippt.
Also Lesen!
Lesen von dem jungen Fußballprofi Kemal, dessen frühes verletzungsbedingtes Ende seiner Karriere in der Türkei ihn zurück katapultiert in sein ganz junges Leben.
Und Kemal realisiert, dass sich in Deutschland etwas zusammenbraut.
Und wer diesen Roman liest wird verstehen, was in Kassel, Hanau, Halle und/oder an Orten, die nicht so im Fokus der aufgeregten Öffentlichkeit stehen, passiert – in unser aller Land.
Ein ernstes Buch, geschrieben in flüssigem, leichtem Ton, fast humorvoll spielend mit dem mitunter harten Geschehen.

Cihan Acar „Hawai“ © Hanser Verlag

„Ich bin Özlem“, Dilek Güngör, Verbrecher Verlag
Auch die Berliner Autorin des Verbrecher Verlages, Dilek Güngör, erzählt leicht und humorvoll von Fragen nach Zugehörigkeit, Identität und der „wahren“ Herkunft.
Klar – ihre Eltern kommen aus der Türkei, leben in Schwäbisch Gmünd.
Der Titel des Buches „Ich bin Özlem“ signalisiert Selbstvertrauen und Stärke.
Und so beschreibt die Autorin ihre Berliner Alltäglichkeit, die ihres blonden Mannes und ihrer lebenslustigen Kinder so leicht und unkompliziert, daß alles unbeschwert scheint.
Herrlich die Familienbesuche, die Vorstellung des Gefährten bei den Eltern und den Verwandten in der Türkei.
Und doch wird deutlich, dass Selbstbestimmung und Ausgrenzung, Rassismus oder Toleranz immer zwei Seiten einer Medaille sind.
Vielschichtigkeit friedvoll oder aggressiv zu erleben ist ein sich täglich wiederholender Rhythmus.
Das Bewusstsein familiärer Traditionen hat Güngör in dem leider vergriffenen Buch „Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter“ erzählt.
Mit „Ich bin Özlem“ ist sie mittendrin im Leben.

Dilek Güngör „Ich bin Özlem“ © Verbrecher Verlag

„Die Stille von Chagos“, Shenaz Patel, Weidle Verlag
Heimat und Identität sind globale Themen.
Das macht Shenaz Patel, auf Mauritius geboren, in ihrem im Weidle Verlagerschienen Roman „Die Stille von Chagos“ deutlich.
Realer Hintergrund ist der Verlust des Chagos-Archipels im indischen Ozean an die Briten im Tausch gegen die in den 60er Jahren erworbene Unabhängigkeit Mauritius.
Das Archipel wurde an die Amerikaner verpachtet, Basis einer militärischen Präsenz u.a. der B52 Bomber zur Kontrolle des Mittleren Ostens.
Auf 160 Seiten beschreibt die Autorin den Wunsch vertriebener Archipelbewohnerinnen nach Rückkehr in ihre geliebte Heimat.
Bedrückend aber auch empathisch ist es, Charlesia am Kai stehend zu erfahren, sehnsüchtig aufs Meer in Richtung der Heimat starrend.
Literarisch großartig, ein zusätzliches Kapitel über den Nutzen des Kokosnußbaums für den Alltag, den Hausbau, als Schattenspender, Lebensmittel, Baumaterial.
So schön erzählt, wirkt dieses Kapitel als eigenständige Erzählung, singulär und wertvoll.
Es ist der Verdienst solcher Erzählungen, den Wert und das Recht auf Heimat, Identität und Persönlichkeit als universelle Kraft wahrzunehmen.
Da verbieten sich bornierte, nationalistische Egoismen!

Shenaz Patel „Die Stille von Chagos“ © Weidle Verlag

„Der aufrechte Mann“, Davide Longo, Rowohlt Verlag
Abschließend erinnert mich die aktuelle Virus-Realität an den vor einigen Jahren geschriebenen Roman „Der aufrechte Mann“ des italienischen Autors Davide Longo, erschienen bei Rowohlt.
Eine grandiose Parabel auf das heutige Italien und das bestechende Porträt eines Mannes, der vieles verlieren muss, um zu sich selbst zu finden.
Das Land ist komplett abgeschottet.
Seine Straßen sind leer, streunende Hunde und Männer mit Gewehren durchqueren die Felder, Lebensmittel, Benzin und Zigaretten werden knapp, Geschäfte und Banken schließen, es ist kein Geld mehr im Umlauf.
Das Staatsfernsehen sendet Berichte, denen keiner glaubt. Wer kann, flieht.
Ein Land in Auflösung, Flüchtende im eigenen Land, dystopische Zustände.
Auf der Suche nach Überleben zieht es auch den „aufrechten Mann“ weiter, immer weiter.
Scheinbar ohne Zukunftsperspektive, entwickelt dieser großartige Roman in Gestalt eines Elefanten und der Kraft der Natur eine zarte Vision nach Erneuerung und Zukunft.

Davide Longo “ Der aufrechte Mann“ © Rowohlt Verlag

Alle Bücher können in der Buchhandlung Tucholsky, Tucholskystr. 47, Berlin-Mitte erworben werden.
Mo – Sa 11 – 19.00 Uhr.
Wir bleiben auch in Coronazeiten geöffnet!
Rufen Sie uns an: Tel. 030 27577663.
Bücher bis 18 Uhr bestellt, können am nächsten Tag abgeholt werden.
Oder wir senden sie Ihnen per Rechnung nach Hause.

 

 

 

 

 

Author: Jörg Braunsdorf

Jörg Braunsdorf ist Inhaber der 2010 gegründeten Tucholsky-Buchhandlung in der Tucholskystraße 47 in Berlin-Mitte.
Auszeichnungen: 4-maliger Gewinner des Deutschen Buchhandlungspreises, zuletzt für das Jahr 2020

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