Die Gezeichneten an der Komischen Oper Berlin

Die Gezeichneten - Komische Oper Foto: Holger Jacobs

Die Gezeichneten an der Komischen Oper Berlin

 

Von Kerstin Schweiger

23.1.2018

🙂 🙂 🙂 (drei von fünf)

english text below

100 Jahre nach der Uraufführung von Franz Schrekers spätromantischer Oper „Die Gezeichneten“ an der Frankfurter Oper 1918 zeigt die Komische Oper Berlin das Stück in einer Neuinszenierung von Calixto Bieito. Premiere war am 21. Januar 2018.

Hintergrund

Franz Schreker galt nach dem ersten Weltkrieg als einer der meistgespielten Opernkomponisten seiner Generation, musikalisch nahe an Wagner, Mahler und Strauss, mit ausgeprägten expressionistischen Stilmitteln, war seine Musiksprache auch Ausdruck des Erneuerungswillen in der Weimarer Republik. Seine Musiktheaterstücke erreichten hohen Aufführungszahlen. Der Erfolg führte zur Berufung als Direktor der Berliner Akademischen Hochschule für Musik, die er leitete bis er als nicht aufführenswert eingestuft von nationalsozialistischen Kulturverantwortlichen bereits 1931 durch den  NS-verbundenen Dirigenten und Präsidenten der Preußischen Akademie der Künste zu Berlin, Max von Schillings, aus dem Amt gedrängt wurde.

Von den Nationalsozialisten als „entartet“ diffamiert, gerieten Schrekers Werke nach 1933 in Vergessenheit, erst in den 1970er Jahren fanden seine Stücke durch  musikwissenschaftliche Forschungsarbeiten nach und nach wieder den Weg in die Opernhäuser.

Geprägt von den Bestrebungen Freuds im Bereich der Psychoanlayse, dem spätbürgerlichen oder auch oppositionellen Verständnis von Künstlern und Literaten der frühen Weimarer Republik, maß Schreker den Libretti seiner Stücke große Bedeutung zu und verfasste diese als Textdichter überwiegend selbst.

Angelehnt an die morbiden Ausläufer des Fin de Siécle, die aufkommende Psychoanalyse und Freud, rückt er literarisch in die Nähe von Oscar Wilde, Zweig, Schnitzler und Wedekind, auf dessen Drama „Hidalla oder Sein und Haben“ (1904) das Libretto zu „Die Gezeichneten“ fußt. Das Stück ist im Genua der Renaissance-Zeit verankert.

Beeinflusst von Weltkrieg, Massentraumata, dem gesellschaftlichem Umbruch der Entstehungszeit, zeichnet der gesellschaftliche Überbau von Schrekers Stück eine Konzentration der Figuren auf das Ich, ein Ringen mit dem Selbst und den Anderen. Schrekers Protagonisten sind auf der Suche nach Eros und Erlösung, Liebe und Schönheit, verlieren sich aber in den Abgründen seelischer und erotischer Exzesse.

8 Photos: „Die Gezeichneten“, BĂĽhne: Rebecca Ringst, Video: Sarah Derendinger, Komische Oper Berlin, Foto: Holger Jacobs

Die Handlung

Eine Refugium der Lust vor den Toren Genuas, verschwundene und missbrauchte Kinder, ein seelisch deformierter Kunstliebhaber als Fädenzieher, der sich in den von ihm gesponnenen gesponnenen Fäden selbst verliert sind die Eckpunkte dieses spätromantisch-psychologischen Musiktheaterstücks. Der reiche Alviano hat ein hässliches Geheimnis. Seine Seelenqualen lindert er an einem  Fluchtort, den er sich selbst geschaffen hat, sein Elysium. Zugänglich ist es nur für ihn und sein männliches Netzwerk reicher Freunde. Diese leben dort abgründige, brutale Neigungen aus. Immer mehr junge Töchter und Söhne verschwinden aus der Stadt, Alviano fürchtet, dass sie in seinem Elysium entdeckt werden und will es allen Bürgern der Stadt zugänglich machen. In der Begegnung mit der schönen, fragilen Künstlerin Carlotta sieht er Seelenverwandtschaft und findet erstmals einen Weg, aus den um sich selbst kreisenden seelischen Problemen auszubrechen und sich einem anderen Menschen zu öffnen. Carlotta malt sein Porträt und Alviano sieht in ihr die lang gesuchte Liebe seines Lebens, eine Art Erlöserin seiner mentalen Probleme. Carlotta wendet sich jedoch Tamare, einem der adeligen Freunde Alviano, zu und wendet sich von Alviano ab. Alviano öffnet sein Elysium den Bürgern der Stadt. Tamare verrät versehentlich dem Herzog den eigentlichen Zweck des Elysiums. Die Genueser, in Bewunderung des von Alviano geschaffenen äußerlich paradiesisch schönen Orte, schützen Alviano zunächst vor dem Zugriff. Die Stimmung kippt als das Ausmaß des Missbrauchs und Kindermordens offenbar wird. Alviano, Carlotta und Tamare reißen sich gegenseitig in den Tod.

Hier ein kleiner Teaser auf unserem Videokanal KULTUR24 TV:

Kritik

Wenn Calixto Bieito Regie führt, sitzt der Zuschauer gedanklich vorn auf der Sesselkante im Parkett. Bieito konzentriert die verzweigte Handlung auf Alvianos pädophile Neigung und den aus seiner selbst gewählten Traumwelt resultierenden von anderen im großen Stil genutzten organisierten Kindesmissbrauch.

Bieito, der dem Haus mit Inszenierungen von Madame Butterfly, Armida, FreischĂĽtz, Dialoge der Karmeliterinnen und einer viel diskutierten „EntfĂĽhrung aus dem Serail“ seit fast zwei Dekaden verbunden ist, fordert den Zuschauer auch in seiner 8. Inszenierung an diesem Haus heraus, sich auseinanderzusetzen, sich bestĂĽrzendsten Bildern zu stellen, die einen direkten Bezug in die Jetztzeit haben. In einem weiĂźen Reinraum der GefĂĽhle (BĂĽhnenbild: Rebecca Ringst) versetzt er den Zuschauer in die Rolle eines Psychoanalytikers, der die Seelenbilder der Protagonisten betrachtet. Vermittelt wird dies im ersten Teil ausschlieĂźlich auf der VorbĂĽhne in einem klinisch weiĂź abgehängten Portal vor einer weiĂźen Wand, die als Projektionsfläche fĂĽr die Innenwelten der Protagonisten aber auch – und das sind die verstörendesten Bilder – „Eyes wide shut“ – der unter deren Taten leidenden Kinder und ihrer Vergewaltiger dient (Projektionen: Sarah Derendinger). Die Konzentration der ersten beiden Akte auf der VorbĂĽhne in einer fast statischen Regie dominiert die erste Hälfte des Abends, macht diese jedoch auch stellenweise sehr zäh und in der szenischen Aufbereitung seltsam undynamisch. Dies steht in völligem Kontrast zur ĂĽberbordenden nervösen Klangwelt Schrekers.

Im zweiten Teil reiĂźt das Produktionsteam dann die Wand auf und rĂĽckt die Tabus der Gesellschaft ins direkte Scheinwerferlicht. Hier findet Bieito auch zu einer klaren irritierenden und direkten szenischen Sprache.

Die musikalische Leitung liegt bei Stefan Soltesz in erfahrenen Händen. Er bündelt Schrekers eklektische Klangekstase zügig und lässt trotzdem den Sängern Freiraum für große Phrasierungen. Er führt sehr straff, aber bringt das Orchester der Komischen Oper zum Strahlen.
Die litauische Sopranistin Aušrinė Stundytė als Carlotta, der englische Tenor Peter Hoare als tragischer Held und der Bariton Michael Nagy, ehemals Ensemblemitglied der Komischen Oper Berlin, als moralisch korrupter Gegenspieler Alvianos sind die gefeierten Protagnisten. Peter Hoare bewältigt die fordernde Rolle des Alviano großartig, wenn er auch hier und da mit dem fordernden Text Schrekers zu kämpfen hat. Aušrinė Stundytės dunkler dramatischer Sopran unterstreicht in ihren großen Szenen die morbide Figur Carlottas, die in Bieitos Interpretation selbst Missbrauchsopfer zu sein scheint.

Das Schlussbild im Toyland, in dem der klangstarke Chor der Komischen Oper Berlin, szenisch und musikalisch eindringliche (einstudiert von David Cavelius) Präsenz zeigt, gehört zu den stärksten des dreistündigen Abends: eine riesige Spielzeugeisenbahn mit leblosen Kindern an Bord zieht unermüdliche Kreise während die drei Protagonisten einander ihre Seelen öffnen und gegenseitig in den Abgrund ziehen.
Lang anhaltender Applaus fĂĽr alle Beteiligten, insbesondere das Protagonisten-Trio und Stefan Soltesz.

Musikalische Leitung: Stefan Soltesz, Regie: Calixto Bieito, BĂĽhne: Rebecca Ringst, KostĂĽme: Ingo KrĂĽgler, Chor: David Cavelius
Mit:
Alviano: Peter Hoare, Carlotta: Ausrine Stundytem, Graf Tamare: Michael Nagy, Herzog Adorno: Joachim Goltz, Podesta: Jens Larsen, Chrorsolisten der Komischen Oper und Vocalconsort Berlin

„Die Gezeichneten“
Komische Oper Berlin
BehrenstraĂźe 55-57
10117 Berlin

Nächste Vorstellungen: 27. Januar; 1., 10., 18. Februar; 11. Jul 2018, Preise: 12 – 92 Euro

16 Photos: „Die Gezeichneten“, Im Elysium, BĂĽhne: Rebecca Ringst, Video: Sarah Derendinger, Komische Oper Berlin, Foto: Holger Jacobs

 

 english text

100 years after the premiere of Franz Schreker’s late Romantic opera „Die Gezeichneten“ at the Frankfurt Opera in 1918, the Komische Oper Berlin presents the piece in a new production by Calixto Bieito. Premiere was on January 21, 2018.

Background

Franz Schreker was after the World War I. as one of the most played opera composers of his generation, musically close to Wagner, Mahler and Strauss, with pronounced expressionist stylistic devices, his musical language was also an expression of the will to renew in the Weimar Republic. His music theater plays reached high performance figures. The success led to the appointment as director of the citizen of Berlin academy of music, which he led until he was classified as not worthy of National Socialist cultural leaders already in 1931 by the Nazi-affiliated conductor and president of the Prussian Academy of Arts in Berlin, Max von Schillings, from the Office was crowded.

Despised by the Nazis as „degenerate“, Schreker’s works fell into oblivion after 1933; only in the 1970s did his pieces gradually find their way back to the opera houses through musicological research.

Influenced by Freud’s efforts in the field of psychoanalysis, the late-bourgeois or even oppositional understanding of artists and writers of the early Weimar Republic, Schreker attributed great importance to the libretti of his plays and wrote them mostly as librettist himself.

Based on the morbid foothills of the Fin de SiĂ©cle, the emerging psychoanalysis and Freud, he moves literary to the vicinity of Oscar Wilde, Zweig, Schnitzler and Wedekind, on his drama „Hidalla or Being and Having“ (1904), the libretto to „Die Drawn „. The piece is anchored in the Genoa of the Renaissance.

Influenced by World War II, mass trauma, the social upheaval of the time of origin, the social superstructure of Schreker’s play draws a concentration of the figures on the ego, a struggle with the self and the other. Schreker’s protagonists are in search of eros and salvation, love and beauty, but they lose themselves in the abyss of emotional and erotic excesses.

The Story

A refuge of lust at the gates of Genoa, missing and abused children, a mentally deformed art lover as a thread-puller who loses himself in the spun threads spun by him are the cornerstones of this late romantic-psychological musical theater piece. The rich Alviano has an ugly secret. He alleviates his anguish at a place of escape he has created for himself, his Elysium. It is only accessible to him and his male network of rich friends. These live out there abysmal, brutal tendencies. More and more young daughters and sons disappear from the city, Alviano fears that they will be discovered in his Elysium and wants to make it available to all citizens of the city. In the encounter with the beautiful, fragile artist Carlotta, he sees soul relatives and for the first time finds a way to break out of the emotional problems surrounding himself and to open oneself to another human being. Carlotta paints his portrait and Alviano sees in her the long-sought love of his life, a kind of redeemer of his mental problems. Carlotta, however, turns to Tamare, one of the noble friends Alviano, and turns away from Alviano. Alviano opens his Elysium to the citizens of the city. Tamare inadvertently reveals the purpose of the Elysium to the Duke. The Genoese, in admiration of the externally paradisiacally beautiful places created by Alviano, initially protect Alviano from access. The mood tilts as the extent of the abuse and child killing becomes apparent. Alviano, Carlotta and Tamare kill each other.

Critics

When Calixto Bieito directs, the viewer sits mentally forward on the edge of the chair in the parquet. Bieito focuses the branched plot on Alviano’s pedophile bias and the self-chosen dream world resulting from other widely used organized child molestation.

Bieito, who has been linked to the house with productions by Madame Butterfly, Armida, FreischĂĽtz, Carmelite Dialogues and a much-discussed „Abduction from the Seraglio“ for almost two decades, also challenges the viewer in this 8th staging of this house to confront, to confront the most disturbing images, which have a direct relation to the present time. In a white clean room of emotions (stage design: Rebecca Ringst) he puts the viewer in the role of a psychoanalyst, who looks at the soul images of the protagonists. This is mediated in the first part exclusively on the proscenium in a clinically white suspended portal in front of a white wall, which as a projection screen for the inner worlds of the protagonists but also – and these are the most disturbing images – „Eyes wide shut“ – suffering from their deeds Children and their rapists serve (projections: Sarah Derendinger). The concentration of the first two acts on the proscenium in an almost static direction dominates the first half of the evening, but makes them very tough in places and strangely undynamic in the scenic treatment. This is in complete contrast to the exuberant nervous world of Schreker.

In the second part, the production team then tears the wall and puts the taboos of society in the spotlight. Here Bieito also finds a clear irritating and direct scenic language.

The musical director is Stefan Soltesz in experienced hands. He bundles Schreker’s eclectic sound ecstasy quickly and still leaves the singers room for big phrasing. He leads very tight, but makes the orchestra of the Komische Oper to shine.
The Lithuanian soprano AušrinÄ— StundytÄ— as Carlotta, the English tenor Peter Hoare as a tragic hero and the baritone Michael Nagy, formerly a member of the ensemble of the Komische Oper Berlin, as the morally corrupt antagonist Alviano are the celebrated protagonists. Peter Hoare performs the demanding role of Alviano great, although he has to fight here and there with the challenging text Schrekers. In her great scenes, AušrinÄ— StundytÄ—’s dark, dramatic soprano emphasizes the morbid figure of Carlotta, who in Bieito’s interpretation himself appears to be an abuse victim.

The finale in Toyland, in which the strong-sounding choir of the Komische Oper Berlin shows in a scenic and musically insistent manner (studied by David Cavelius), is one of the strongest of the three-hour evening: a giant toy train with lifeless children on board draws tireless circles during the three Protagonists open each other’s souls and pull each other into the abyss.
Long-lasting applause for everyone involved, in particular the protagonist trio and Stefan Soltesz.

 

Author: Kerstin Schweiger

Opernfan und Kunstliebhaber

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