König Lear im Hamburger Schauspielhaus

König Lear, Hamburger Schauspielhaus Foto: Matthias Horn

König Lear im Hamburger Schauspielhaus

 

Von Julia Engelbrecht

26.10.2018

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Shakespeares Drama im neuen Gewand

Die Vorfreude und die Erwartung waren groß. Schließlich brachte das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg mit Shakespeares König Lear nicht nur einen gewichtigen Klassiker zum Saisonstart auf die Bühne, sondern die Intendantin platzierte zudem mit Edgar Selge in der Hauptrolle einen wahren Publikumsliebling an vorderster Front. Damit nicht genug: Die Regiearbeit übernahm Hausherrin Karin Beier selbst, die zuletzt mit ihrer viel gelobten Inszenierung von Houllebecqs „Unterwerfung“, – einem fulminanten Edgar Selge-Monolog-, einen großen Bühnenerfolg feiern konnte.

Gebannt verfolgte also das Premierenpublikum, wie sich die Verquickung des vielversprechenden Theatergespanns Shakespeare-Selge-Beier entpuppen würde.

Der sterile und nach hinten ansteigende Bühnenkasten (Johannes Schütz) verdeutlicht schnörkellos die emotionale Enge und Ausweglosigkeit, in der sich König Lear befindet und aus der es für ihn kein Entrinnen gibt – außer er ergreift die Flucht nach vorn auf die Sitzplätze in der ersten Reihe, die nicht nur als Rückzugsort für die Schauspieler dienen, sondern auch von drei wuchtigen Scheinwerfern okkupiert sind. Je nach Standpunkt der Akteure erzeugen die Strahler ein raffiniertes Schattenspiel auf die kahlen Wände und fächern so die Facetten der einzelnen Figuren kunstvoll auf.

Im grauen Anzug aus feinem Zwirn schlurft König Lear (Edgar Selge) eher gelangweilt als verzagt über den schrägen Bühnenboden. Resignation statt Verzweiflung bestimmen noch sein Gemüt, das vor allem Ausdruck findet in seiner dreifachen Silhouette, die ihm schattenhaft folgt. Keine Krone, kein Thron, kein Sessel. Dafür dienst ein großer  wie vom Schlachten-Blut getränkter Teppich im Perserlook als Landkarte seiner Besitztümer, die er den drei Töchtern zu vererben gedenkt. Die erste Kernszene naht. Während die Töchter Regan und Goneril Gefühle heucheln, bekennt die jüngste Tochter Cordelia schlicht, dass sie ihren Vater liebe, wie eine Tochter eben ihren Vater nur lieben könne.  Eine Szene, die seit der Uraufführung 1605 die Gemüter des Publikum berührt, ergreift und erschüttert, die jedoch an diesem Abend irgendwie verpufft in ihrer Wirkung, ihrer Essenz, ihrer Bedeutung.

Das weibisch-transige Getue von Carlo Ljubek als Goneril und Samuel Weiss als Schwester Regan in ihren Glamour-Kleidern vermag nicht das durchtriebene Kalkül, das Shakespeare diesen Frauen zugedacht hat, in den Zuschauerraum zu  transportieren. Und so richtet sich zunächst alles Sehnen nach menschlichem Tiefsinn auf Lisa Beckmann, die der Cordelia ein inniges Minenspiel verleiht, indem sie zärtlich dem vom Alter zerzausten Vater die Haare kämmt und dabei hilfesuchend um sich schaut. Ihr naives Tun wirkt wie eine wärmendes Leuchten in dem von Kaltschnäuzigkeit und Egozentrik betäubtem Gehabe der Akteure.

Mit rotem Samtanzug, Siegelring und Cadbury-Schokolade stolziert Edger (Jan-Peter Kampwirth) schnöselig wie ein Cambridge-Student durch die Szenerie, während sein Bruder Edmund (Sandra Gerling), der uneheliche Sohn des Grafen von Gloucester (Ernst Stötzner) unverblümt seine Ansprüche auf das Erbe anmeldet: „I am Eddy motherfucking the first“.

Früh hat sich der Zuschauer daran zu gewöhnen, dass von Shakespeares Text wenig übrigbleibt. Stattdessen fabulieren die Akteure Sächsisch, singen Chansons (If you dont know me by now, What a wonderful world) und ziehen sich aus. Der Hang zum Slapstick erblüht und die Tragödie verdampft schließlich im harten Wasserstrahl, mit dem die erbarmungslosen Töchter ihren nackten und entmündigten Vater abspritzen, nachdem er von einem flauen „Sturm auf der Heide“ erschöpft und verdreckt heimgekehrt ist.

Das Geschehen erinnert zunehmend an die Exzesse einer verkommenden Wohlstandsfamilie aus Dallas oder Denver, die sich so schonungslos wie lustvoll ihrem internen Machtkampf hingibt, und es fällt zunehmend schwer, zu erahnen, welche Verzweiflung und welches innere Ringen Shakespeare dem greisen Ex-Regenten in einer aus den Fugen geratenen Welt zugedacht hatte.

Und auch wenn Karin Beier dem Stück das Drama irgendwie (ungewollt) austreibt, verleiht sie ihrem König Lear ein neues Kleid, das seine Wirkung hat, indem es auf unsere Gesellschaft unser Leben blickt. Ihre ambitionierte Regiearbeit hinterlässt einen Fleckenteppich von szenischen Pralinés, die stärker nachwirken als zunächst vermutet. Da ist nach der Pause dieses anrührende Zwiegespräch zwischen Lear und Gloucester, das überzeugt und berührt. Da ist der Narr mit Down-Syndrom (wieder Lina Beckmann), der dem dementen König selbstlos und tapfer zur Seite steht. Und da ist die Szene, in der Lear im Feinripp-Büßerhemd seiner verstoßenen Tochter Cordelia in Designerhose gegenüber steht und stammelt: „Mir scheint, ich müsst Euch kennen“.

Das sind starke Momente, die uns ergreifen, weil wir wissen, wie es ist, wenn Eltern das Zepter übergeben wollen, aber wir den König in ihnen nicht mehr erkennen können.

König Lear von W. Shakespeare 
Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Regie: Karin Beier, Bühne/Kostüme: Johannes Schütz, Musik: Jörg Gollasch
Mit: Edgar Selge, Carolo Ljubek, Samuel Weiss, Lina Beckmann, Matti Krause, Ernst Stötzner, Jan-Peter Kampwirth und Sandra Gerling

Nächste Vorstellungen: 26. Und 27. Okober sowie 10., 11., 21. Und 27. November

Hier 1o Fotos aus der Produktion:

10 Photo: „König Lear“, Hamburger Schauspielhaus, Carlo Ljubek, Edgar Selge, Foto: Matthias Horn

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King Lear at the Hamburger Schauspielhaus
By Julia Engelbrecht
26/10/2018
The anticipation and expectation were great. The Deutsche Schauspielhaus in Hamburg brought not only Shakespeare’s King Lear to the stage with a major classic at the start of the season, but put also Edgar Selge in the lead role as a true crowd-pleaser on the front line. But that was not all: The directorial work was taken over by the theater director Karin Beier herself, who recently celebrated a great stage performance with her highly acclaimed production of Houllebecq’s „Unterwerfung“, a fulminant Edgar Selge monologue.
Therefore, the audience of the premiere was excited to see how the fusion of the promising playwright Shakespeare-Selge-Beier turned out to be.
The sterile and backward-rising stage box (Johannes Schütz) clearly illustrates the emotional tightness and hopelessness in which King Lear is and from which there is no escape for him – unless he takes the flight forward on the seats in the front row, which not only serve as a retreat for the actors, but are also occupied by three bulky spotlights. Depending on the point of view of the actors, the spotlights create a subtle play of shadows on the bare walls and thus fan out the facets of the individual figures in an artistic way.

In a gray suit made of fine thread King Lear shuffles rather bored than despondent over the sloping stage floor. Resignation instead of despair still determine his mind, which finds expression above all in its triple silhouette, which follows him in a shadowy manner. No crown, no throne, no chair. A large Persian rug, soaked in battle blood, serves as a map of his possessions, which he intends to pass on to his three daughters. The first core scene is approaching. While the daughters Regan and Goneril feign feelings, the youngest daughter Cordelia simply confesses that she loves her father like a daughter could just love her father. A scene that touches, touches and shakes the minds of the audience since its premiere in 1605, but somehow loses its power, its essence, its meaning. Carlo Ljubek’s gregarious fuss as Goneril and Samuel Weiss as sister Regan in their glamorous dresses can not transport the cunning calculus that Shakespeare intended for these women into the auditorium. And so, first of all, all longing for human profundity is directed at Lisa Beckmann, who gives Cordelia an intimate mime game by gently combing the hair of her old friend’s disheveled face while looking for help. Their naive action acts like a warm glow in the idleness of the actors stunned by cold-bloodedness and egocentricity.
With a red velvet suit, signet ring and Cadbury chocolate, Edger (Jan-Peter Kampwirth) dashes like a Cambridge student through the scenery, while his brother Edmund (Sandra Gerling), the bastard son of Count von Gloucester, bluntly defies his claims on the inheritance logs „I am Eddy motherfucking the first“.
Early on, the viewer has to get used to the fact that there is little left of Shakespeare’s text. Instead, the actors fool Saxon, sing chansons (If you dont know me by now, What a wonderful world) and undress. The penchant for slapstick blossomed and the tragedy finally evaporated in the stream of water with which the merciless daughters cums their naked and incapacitated father after he has returned from a dull „storm on the heath“ exhausted and dirty.
The events are increasingly reminiscent of the excesses of a well-to-do affluent family from Dallas or Denver, who relentlessly and relishly surrenders to their internal power struggle, and it is increasingly hard to guess what despair and what inner struggle Shakespeare has given the aged ex-regent in one intended for the frayed world.

And even though Karin Beier somehow (unintentionally) drives the drama out of the play, she gives her new Lear Lear a new dress, which has its effect by looking at our society and lives. Her ambitious directing work leaves behind a patchwork of scenic pralines, which have more of an impact than initially suspected. There is this touching conversation between Lear and Gloucester after the break that convinces and touches. There’s the fool with Down syndrome (again Lina Beckmann), who selflessly supports the demented king. And there’s the scene where Lear, in a fine-rib penitent shirt, stands opposite his outcast daughter Cordelia in designer pants, stammering, „It seems to me I need to know you.“
These are powerful moments that seize us, because we know what it’s like when parents want to hand over the scepter, but we can no longer recognize the king in them.

King Lear, W. Shakespeare, Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Director: Karin Beier, Stage / Costumes: Johannes Schütz, Music: Jörg Gollasch
With: Edgar Selge, Carolo Ljubek, Samuel Weiss, Lina Beckmann, Matti Krause, Ernst Stötzner, Jan-Peter Kampwirth and Sandra Gerling

Next performances: 26th and 27th of October as well as 10th, 11th, 21st and 27th of November

 

Author: Holger Jacobs

Founder & Editorial Director of kultur24.berlin ug.
Founder & Editorial Director of kultur24 TV on Youtube.
Former correspondent for fashion in Paris.
Photographer, writer and filmmaker.

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