La Bohème in der Komischen Oper Berlin

La Boheme - Komische Oper Berlin © Holger Jacobs/ kultur24.berlin

La Bohème in der Komischen Oper Berlin

 

Von Holger Jacobs

28.01.2019

Wertung: 🙂 🙂 🙂 🙂 (vier von fünf)

english text

Die vielleicht berühmteste Oper in der Musikgeschichte als Neuproduktion von Regisseur und Intendant Barrie Kosky.

Die Musik von „La Bohème“ von Giacomo Puccini kommt mit so einer Wucht auf den Zuhörer, dass es einen quasi vom Sitz reißt. Welche Musikstücke kennt Ihr, welche Euch Gänsehaut machen oder die Augen feucht werden lassen?
Ist es vielleicht die „Ode an die Freude“ von Beethoven? Oder das „Requiem“ von Mozart? Ist es vielleicht „Imagine“ von John Lennon oder „Knocking on Heavens door“ von den Led Zeppelin?

Welche Musik Euch auch am meisten bewegt, „La Bohème“ – besonders die Arie von Mimi „Si. Mi Chiamano Mimi“ und das gemeinsame Duett mit Rodolfo, „O soave fanciulla“ gleich im ersten Akt – gehören auf jeden Fall dazu!
Speziell an der Stelle, wenn Mimi singt „Im Frühling gehört mir der erste Sonnenstrahl und der erste Kuss im April“ und der Orchesterton langsam anschwillt, brechen alle Dämme.

Großer Applaus am Premierenabend, „La Bohème“ von Puccini, Komische Oper Berlin © Holger Jacobs/ kultur24.berlin

Hintergrund

Giacomo Puccini (*1858 – †1924), dessen Vater und Großvater ebenfalls Komponisten waren, debütierte bereits im Alter von 26 mit seiner ersten Oper in Mailand und konnte sofort große Erfolge erzielen. Nur fünf Jahre später komponierte er die Oper „Manon Lescaut„, welche seinen Durchbruch bedeutete. Und nur drei Jahre später kam „La Bohème„, uraufgeführt am 1. Februar 1896 im Teatro Regio in Turin. Dirigent war kein Geringerer als Arturo Toscanini!
Giacomo Puccini hatte das Buch „Les scènes de la vie de bohème“ des französischen Schriftstellers Henri Murger gelesen und war sofort begeistert. Er erinnerte sich an seine eigene Studentenzeit in Turin und kannte das junge Künstlerleben sehr genau. Dabei strich er zusammen mit seinen Librettisten Luigi Illica und Giuseppe Giacosa die 23 Kapitel von Murger auf nur 4 Akte zusammen und konzentrierte sich ganz auf die Liebesgeschichte zwischen Rodolfo und Mimi und Mimis tragischen Tod.
Anders als in den meisten Opern stirbt hier nicht die Hauptperson durch die eigene Hand oder die eines Gegners, sondern durch Krankheit. Somit stehen bei „La Bohème“ das freie und wilde Leben eines Künstlers gegenüber der Armut solchen Daseins, welche nicht einmal genug Mittel erbringt, um sich von einer Krankheit heilen zu lassen.

Die Kunst Puccinis war es, mit unglaublichem Geschick Stimme und Musik in Einklang zu bringen. Anders als bei anderen Komponisten gibt es bei Puccini nicht einen Klangteppich, der die Sprache kaum noch erkennen lässt, sondern eine solch präzise Punktierung, das der Zuhörer meint, Mimi würde direkt zu ihm sprechen.

Unser Video auf kultur24 TV zeigt die Arien von Rodolfo, Mimi und Musetta:

Handlung

In einer Pariser Mansardenwohnung um 1830 treffen sich am Weihnachtsabend vier Freunde. Rodolfo, der Schriftsteller, Colline, der Philosph, Schaunard, der Musiker und Marcello, ein Maler. Sie haben noch nicht einmal das Geld, sich Kohle für ihren Ofen zu kaufen und sitzen frierend auf dem Boden. Rodolfo lernt seine Nachbarin Mimi kennen, die um Feuer für ihre Kerze bittet. Sie ist schwer krank, versucht es aber zu verbergen. Beide verlieben sich ineinander. Rodolfo nimmt Mimi mit ins Café Momus, um zusammen mit seinen Freunden das Künstlerleben zu feiern. Dort tritt auch die attraktive Musetta auf, in die sich Marcello verliebt. Zwischen Rodolfo und Mimi fängt es bald an zu kriseln, da er ihr Untreue vorwirft. In Wirklichkeit will er Mimi freigeben, damit sie einen reichen Mann kennenlernen kann, der ihr das Geld für Medikamente gibt. Nach ein paar Monaten treffen sich die vier Freunde in der Mansarde wieder. Plötzlich kommt Musetta mit der totkranken Mimi. Alle versuchen nochmal das Geld für Medikamente zusammenzukratzen, doch es ist zu spät. Mimi stirbt.


Das Kulturkaufhaus Dussmann in Berlin empfiehlt:
Die Blue Ray Aufzeichnung von „La Bohème“ aus dem Royal Opera House von 2018 mit Nicole Car als Mimi und  Michael Fabiano als Rodolfo unter der musikalischen Leitung von Antonio Pappano. Erschienen bei OPUS ARTE.


Kritik

Barrie Kosky gehört mittlerweile zu den erfolgreichsten Opernregisseuren dieser Welt. Es gibt kaum eine Inszenierung, die nicht zum Erfolg wird. Ob es Musicals, à là „West Side Story„, tragische Opern, wie „Jewgeni Onegin„, Wagner-Opern in Bayreuth, oder komische Opern, wie „Anatevka“ sind, immer findet Barrie Kosky die richtige Umsetzung, die richtige Idee für das Ouevre.

Für „La Bohème“ hatte er sich vorgenommen nicht in die Romantik-Kitsch Falle zu geraten, wie es sie bei so vielen Inszenierungen zu sehen gibt. Das Bohème-Leben wird all zu oft verklärt und mit Bildern von Toulouse-Lautrec aus dem Paris der Belle-Epoque gleichgesetzt.
Deshalb entschloss sich Kosky bei der Bühnenausstattung äußerste Zurückhaltung und lässt den ersten, dritten und vierten Akt vor kahlem, grauen Bühnenhintergrund spielen; der Spielort selbst, wie das Mansardenzimmer, nur mit ein paar rudimentären Requisiten bestückt. Einzig im zweiten Teil wird das Café Momus zur Bühne einer riesigen Künstler – und Halbweltfamilie, bestehend aus Gauklern, Dieben, Huren, Musikern und Dichtern. Ein Heer von Komparsen bevölkert die Bühne mit einer berauschenden Kostümpracht und viel, viel Humor. Hier ist Barrie Kosky in seinem Element, der Zuschauer spürt es sofort.

Der Minimalismus ist mir ein bisschen zu weit gegangen, wirkliche Künstleratmosphäre in der Mansarde will bei mir nicht aufkommen. Auch die Idee, aus dem Maler Marcello einen Photographen zu machen (die Photographie wurde erst 1839 erfunden) mit Hintergrundleinwänden, auf denen Motive alter Daguerrotypen zu sehen sind, kommt bei mir nicht wirklich an.

Großer Applaus am Premierenabend (links Barrie Kosky), „La Bohème“ von Puccini, Komische Oper Berlin © Holger Jacobs/ kultur24.berlin

Was der geniale Barrie Kosky aber wirklich beherrscht, und dies habe ich ja schon häufig festgestellt, ist seine Personenregie. Jede Regung, jede Gestik der Protagonisten ist stimmig und ergibt zusammen mit der Musik das richtige „La Bohème“ – Gefühl. Trotz des minimalistischen Hintergrundes.

Auch die Wahl der zarten Sopranistin Nadja Mchantaf als Sängerin der Mimi passt hervorragend in das Gesamtbild dieser herzzerreißenden Geschichte. Genauso der attraktive Jonathan Tetelman als ihr Liebhaber Rodolfo. Dennoch möchte ich hier zwei herausstellen, die mir gesanglich besonders gefallen haben:
Günter Papendell als Marcello und die junge Vera-Lotte Böcker als Musetta. Wie letztere mit blonden Haaren und goldenem Kleid ihren Auftritt im Café Momos zelebriert ist der Hingucker des Abends!

Fazit: Einmal mehr gewinnt Barrie Kosky die Herzen der Opernfans.

„La Bohème“ von Giacomo Puccini
Komische Opern Berlin
Premiere war am 27.01.2019
Musikalische Leitung: Jordan de Souza, Regie: Barrie Kosky, Bühne: Rufus Didwiszus, Kostüme: Victoria Behr
Mit: Nadja Mchantaf (Mimi), Jonathan Tetelman (Rodolfo), Vera-Lotte Böcker (Musetta), Günter Papendell (Marcello), Daniel Folie (Schaunard), Philipp Meierhöfer (Colline)

Nächste Vorstellungen am 8., 14. Februar; 17., 22. und 30. März; 4., 19. und 28. April 2019

Hier unsere Bilderserie mit 16 Fotos der Produktion von „La Bohème„:

16 Bilder: Rodolfo (Jonathan Tetelman) und Mimi (Nadja Mchantaf), „La Bohème“, Komische Oper Berlin © Holger Jacobs/ kultur24.berlin

 

english text

La Boheme at Komische Oper Berlin
By Holger Jacobs
01/28/2019
Perhaps the most famous opera in music history as a new production by director Barrie Kosky.
The music of „La Bohème“ by Giacomo Puccini hits the listener with such force that it almost snaps one’s seat. What pieces of music do you know that can make you goosebumps or make your eyes wet? Is it perhaps Beethoven’s „Ode to Joy“? Or the „Requiem“ by Mozart? Is it perhaps „Imagine“ by John Lennon or „Knocking on Heavens Door“ by Led Zeppelin?
Whichever music moves you the most, „La Bohème“ – especially the aria of Mimi „Si Mi Chiamano Mimi“ and the joint duet with Rodolfo, „O soave fanciulla“ in the first act – are definitely one of them! Especially when Mimi sings „In the spring I have the first ray of sunshine and the first kiss in April“ and the orchestral sound swells slowly, then the emotions are on their highest level.
Background
Giacomo Puccini (* 1858 – † 1924), whose father and grandfather were also composers, debuted at the age of 26 with his first opera in Milan and was able to achieve great success immediately. Only five years later he composed the opera „Manon Lescaut“, which meant his breakthrough. And only three years later came „La Bohème“, premiered on February 1, 1896 at the Teatro Regio in Turin. Conductor was none other than Arturo Toscanini!
Giacomo Puccini had read the book „Les scènes de la vie de bohème“ of the French writer Henri Murger and was immediately enthusiastic. He remembered his own student days in Turin and knew the young artist life very well. At the same time, together with his librettists Luigi Illica and Giuseppe Giacosa, he reduced the 23 chapters of Murger to just four acts, concentrating entirely on the love story between Rodolfo and Mimi and Mimi’s tragic death. Unlike in most operas, the main character does not die here by his own hand or that of an enemy, but by illness. Thus, in „La Bohème“, the free and wild life of an artist stands against the poverty of such existence, which does not even provide enough to be healed of an illness.
The art of Puccini was to unify voice and music with unbelievable skill. Unlike other composers, Puccini does not have a sound tapestry that barely reveals the language, but such precise punctuation that the audience feels Mimi speaks directly to them.

Story
On Christmas Eve, around 1830, four friends, Rodolfo, the writer, Colline, the Philosph, Schaunard, the musician, and Marcello, a painter, meet in a Parisian attic apartment. They do not even have the money to buy coal for their stove and sit freezing on the floor. Rodolfo meets his neighbor Mimi, who asks for fire for her candle. She is seriously ill but tries to hide it. Both fall in love. Rodolfo takes Mimi to Café Momus to celebrate artist life with his friends. There is also the attractive Musetta, in which Marcello falls in love. Between Rodolfo and Mimi, it soon starts to trouble, as he accuses her of unfaithfulness. In fact, he wants to release Mimi so that she can meet a rich man who have the money ton buy her medicine. After a few months, the four friends meet again in the attic. Suddenly Musetta comes with the deadly Mimi. Everyone is trying to scrape together the money for medicine again, but it is too late. Mimi dies.

Critics
Barrie Kosky is now one of the most successful opera directors in the world. There is hardly a production that does not succeed. Whether it’s musicals, à la „West Side Story“, tragic operas like „Evgeni Onegin“, Wagner operas in Bayreuth, or comic operas like „Anatevka“, Barrie Kosky always finds the right realization, the right idea for that oeuvre.
For „La Bohème“ he had decided not to fall into the romance-kitsch trap, as it can be seen in so many productions. The bohemian life is all too often transfigured and equated with images of Toulouse-Lautrec from the Paris of the Belle Epoque. Therefore, Kosky decided on the stage equipment utmost restraint and lets play the first, third and fourth act against a bleak, gray stage background and the attic room, equipped with only a few rudimentary props. Only in the second part is the Café Momus the stage of a huge artistic family, consisting of jugglers, thieves, whores, musicians and poets. An army of extras populate the stage with crazy costumes and a lot of humor. Here Barrie Kosky is in his element, the viewer feels it immediately.
The minimalism has gone a bit too far in my opinion, real artist atmosphere in the attic will not come up with me. The idea of ​​turning the painter Marcello into a photographer (the photograph was first invented in 1839) with background screens showing motifs of old Daguerreotypes does not really suit me.
But what the ingenious Barrie Kosky really masters, and I have already mentioned it quite often, is his personal direction. Every movement, every gesture of the protagonists is harmonious and, together with the music, gives the right „La Bohème“ feeling. Despite the minimalistic background.
The choice of the tender soprano Nadja Mchantaf as a singer of Mimi fits perfectly into the overall picture of this heartbreaking story. Just like the attractive Jonathan Tetelman as her lover Rodolfo. Nonetheless, I would like to highlight two that I particularly enjoyed singing and playing: Günter Papendell as Marcello and the young Vera-Lotte Böcker as Musetta. How Musetta celebrates her appearance in the Café Momus with blond hair and a golden dress is the eye-catcher of the evening.
Conclusion: Once again, Barrie Kosky wins the hearts of the opera fans.
„La Bohème“ by Giacomo Puccini
Premiere was on 27.01.2019
Musical Direction: Jordan de Souza, Director: Barrie Kosky, Stage: Rufus Didwiszus, Costumes: Victoria BehrWith: Nadja Mchantaf (Mimi), Jonathan Tetelman (Rodolfo) , Vera-Lotte Böcker (Musetta), Günter Papendell (Marcello), Daniel Folie (Schaunard), Philipp Meierhöfer (Colline)
Next performances on February 8th, 14th; 17th, 22nd and 30th of March; 4th, 19th and 28th April 2019

Author: Holger Jacobs

Founder & Editorial Director of kultur24.berlin ug.
Founder & Editorial Director of kultur24 TV on Youtube.
Former correspondent for fashion in Paris.
Photographer, writer and filmmaker.

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