Lenin – Schaubühne Berlin

Lenin, 1920, Schaubühne 2017 © Bundesarchiv/ Florian Baumgarten

Lenin – Schaubühne Berlin

 

Von Camilla Hertz

23.10.2017

 english text below

 

Lenins letzte Tage

Am 19. Oktober feierte „Lenin“ von Milo Rau in der Schaubühne seine Premiere. Das Stück spielt im September 1923, sechs Jahre nach der großen Oktoberrevolution, die sich in diesem Monat zum hundertsten Mal jährt. Milo Rau thematisiert den körperlichen und geistigen Verfall Lenins (*1870 †1924) im Jahr vor seinem Tod, isoliert vom Zentralkomitee.

Die Handlung findet in einer russischen Datscha auf einer sich rotierenden Drehbühne statt. Neben der Datscha steht auf der rechten Seite der Bühne ein Schminktisch, an dem sich im Laufe des Stückes die Schauspielerin Ursina Lardi in die Figur Lenin mit Halbglatze und Bart verwandelt. Links neben der Datscha ziehen sich die Schauspieler vor Beginn des Stückes um und scheinen den Zuschauer zur Zeitreise in das Jahr 1923 drängen zu wollen. In Raus Stil fungieren die Schauspieler teils als sie selbst, teils in ihren Rollen.

Die russische Datscha wirkt so authentisch bis ins kleinste Detail, dass man als Zuschauer fast auf die Bühne treten möchte, um die verwinkelten Räume zu erforschen. Diese Rolle übernehmen jedoch 2 Kameramänner, deren Bilder auf eine Leinwand über der Datscha projiziert werden. So entsteht der Film „Lenin“. Dieser Film porträtiert den Revolutionär in seinem letzten Jahr, welches geprägt ist durch seine körperlichen und geistigen Leiden aufgrund zahlreicher Schlaganfälle. Verwirrtheit und Lähmungen lassen die Machtperson zu einer Hülle seiner selbst werden, die am Ende verstirbt. Neben seiner Frau Krupskaja, seinem Arzt, Trotzki und anderen Vertrauten werden in der russischen Datscha aber auch kurze lichte Momente des Revolutionärs deutlich. Weiterhin sind die Machtverschiebung und (Neu-)Positionierung der Einzelnen zentral. So wittert Stalin schon seine Gelegenheit, die Macht an sich zu reißen.

Lenin im Mai 1923 umgeben von seiner Schwester Anna und seinem Arzt Kozhernikov @ Wikimedia

 Das erste Bild im Film „Lenin“ zeigt den Kommunistenführer orientierungslos in seinem Bett liegend, den Arzt für seine Mutter haltend. Er wirkt mehr wie ein Kind, als sein Arzt ihn auszieht, bei ihm rektal Fieber misst und in die Badewanne setzt. Doch im Laufe der zwei Stunden erhält der Zuschauer auch einen anderen Blick auf den Diktator. So zeigen sich in einigen Szenen seine aggressive und mitleidlose Art, die auch vor Kindern nicht Halt macht. Die musikalische Untermalung verstärkt die zwei Seiten und reicht von Bachs Klavierkonzerten bis zum dumpfen Donnergrollen. Die Datscha wirkt heimelig, ja geradezu gemütlich und gleichzeitig isoliert. Lenins Vertraute positionieren sich neu und scheinen selbst nicht ganz zu wissen, wo sie stehen.

Allein Stalin scheint zu erfassen, was er mit Lenins Machtverlust anfangen kann. Zunehmend schirmt er Lenin ab, indem er das Telefon abstellen lässt und keine Sitzungsprotokolle mehr herausgibt.
Mit Lenins letztem Schlaganfall stoppt die Drehbühne, das Bild über der Datscha wird schwarz-weiß und der Zuschauer wird unsanft wieder in die Gegenwart gerissen.

Milo Raus Intention, die unterschiedlichen Wahrnehmungen von Lenin zu präsentieren, gelingt gut. So wird zum einen das Menschliche, aber auch Ikonenhafte des Kommunisten und andererseits das Aggressive und Zerstörerische des Führers deutlich. Und noch mehr: Als Zuschauer empfindet man Empathie für den Massenmörder, was sicherlich an der großartig spielenden Ursina Lardi liegt. Allerdings ziehen sich die zwei Stunden in die Länge, trotz der Schauspielkunst Ursina Lardis und Co. Die Verwandlung von Lardi in den sterbenden Lenin sieht man mitfühlend zu – die Quintessenz jedoch bleibt verborgen und darüberhinaus die Spur einer Verwirrung (vielleicht wie bei Lenin selbst) zurück.

Regie: Milo Rau
Bühne und Kostüme: Anton Lukas, Silvia Naunheim
Video: Kevin Gerber
Licht_ Erich Schneider

Ursina Lardi: Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin
Nina Kunzendorf (auch bekannt als „Tatort“ Kommissarin): Nadeschda Krupskaja, (Lenins Frau)
Felix Römer: Lew Bronstein, genannt Trotzki
Damir Avdic: Iossif Dschugaschwili, genannt Stalin
Ulrich Hoppe: Anatoli Lunatscharski
Kay Bartholomäus Schulze: Fjodor Guetier
Lukas Turtur: Pjotr Petrowitsch Pakaln
Iris Becher: Lydia Alexandrowna Koschkina
Konrad Singer: Sapogow
Veronika Bachfischer: Feiga Shabat

„LENIN“
Schaubühne am Lehniner Platz
Kurfürstendamm 153
10709 Berlin
Nächste Vorstellungen: 23., 24. Oktober, 04., 05., 16., 17., 18., 19. November, 05., 09. und 10. Dezember

10 Photos: Ursina Landi als Lenin, „LENIN“, Schaubühne Berlin © Thomas Aurin

 

 english text

Lenin’s last days

On 19 October „Lenin“ of Milo Rau celebrated its debut at the Schaubühne. The play takes place in September 1923, six years after the great October Revolution, which celebrates it’s centennial this month. Milo Rau addresses the physical and spiritual decline of Lenin (* 1870 † 1924) the year before his death, isolated from the Central Committee.
The action takes place in a Russian dacha on a rotating stage. Next to the dacha is a dressing table on the right side of the stage, where the actress Ursina Lardi transforms into the figure of Lenin with a bald head and beard. To the left of the dacha, the actors move before the beginning of the play and seem to want to push the viewer into the year 1923. The actors act in disguise as part of themselves, partly in their roles.
The Russian dacha is so authentic, down to the smallest detail that you almost as a spectator would like to step onto the stage to explore the twisted rooms. This role, however, is taken over by 2 guys with film cameras, whose images are projected onto a canvas above the dacha. This is how the film „Lenin“ is made. This film portrays the revolutionary in his last year, which is characterized by his physical and mental ailments due to numerous strokes. Confusion and paralysis make the person of power become a covering of himself, which in the end dies. In addition to his wife Krupskaya, his doctor, Leo Trotsky, and other confidants, the Russian dacha also reveals brief moments of the revolutionary. Furthermore, the shift in power and (re) positioning of the individual are central.

Thus Stalin already senses his opportunity to seize power.
The first picture in the film „Lenin“ shows the Communist leader lying in his bed without orientation, holding the doctor for his mother. He feels more like a child than his doctor takes him off, measures rectal fever and puts him in the bathtub. But in the course of the two hours, the viewer also gets a different view of the dictator. Thus in some scenes his aggressive and pitiless nature, which also does not stop in front of children. The background music reinforces the two sides, ranging from Bach’s piano concertos to the dull thunder. The dacha looks homely, even cozy and at the same time isolated. Lenin’s confidants reposition themselves and do not seem to know where they are.
Stalin alone seems to understand what he can do with Lenin’s loss of power. Increasingly, he shields Lenin by leaving the phone off and not issuing any session logs.
With Lenin’s last stroke, the stage will stop, the picture over the dacha will be black and white and the viewer will be torn to the present.

Milo Raus’s intention to present the different perceptions of Lenin succeeds well. Thus, on the one hand, the human, but also the iconic features of the Communist and, on the other hand, the aggressiveness and destructiveness of the dictator. And even more: as a spectator you feel empathy for the mass murderer, which is certainly due to the great playing Ursina Lardi. However, the two hours seem a little bit too long, despite the drama art of Ursina Lardis and Co. The transformation of Lardi into the dying Lenin is seen sympathetically – the quintessence, however, remains hidden and, moreover, the trace of a confusion (perhaps as in Lenin himself).

 

Author: Camilla Hertz

Studentin der Psychologie auf der MSB Medical School Berlin, Masterstudiengang

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