Patentöchter. Im Schatten der RAF

Patentöchter. Im Schatten - Thalia Theater Foto: Krafft Angerer

Patentöchter. Im Schatten der RAF

 

Von Julia Engelbrecht

24.09.2018

english text below

„Patentöchter. Im Schatten der RAF“ im Hamburger Thalia Theater – Der Fall Susanne Albrecht

Die Fläche, die das Bühnenbild einnimmt, ist viel kleiner als der Bühnenraum, der sich dunkel dahinter erhebt.
Wie in einen Schuhkarton gepfercht, in einen Bungalow der Bonner Republik, befindet sich rechts eine Küche mit dahinter liegendem Wohnzimmer und links im direkten Anschluss nur durch eine dünne Wand getrennt, ein Wohnzimmer mit dahinterliegender Küche. Alles ist untergebracht auf kleinstem Raum, die beiden Behausungen sind fast identisch, nur spiegelverkehrt.
Die gediegenen Möbel, die Couch, der Fernseher mit Rudi Carrell-Show, die Schränke, Lampen und das Teeservice. Alles verströmt Enge, Zwang und Ordnung.

So muss es auch damals Susanne Albrecht empfunden haben, nicht nur gesellschaftlich und politisch insgesamt, sondern auch zuhause bei ihren Eltern in Hamburg, sowie im Haus ihres Patenonkels Jürgen Ponto in Oberursel, wo sie am 30. Juli 1977 das Unfassbare tut.
So unfassbar, dass selbst noch 40 Jahre nach dem RAF-Mord die Beklemmung, Trauer und Verzweiflung dieser beider Familien, zwischen der Täterfamilie und der Opferfamilie, schmerzhaft an diesem Premierenabend erlebbar wird.

Mit seiner Inszenierung von „Patentöchter“, einem Dialog von Julia Albrecht und Corinna Ponto, ist es Regisseur Gernot Grünewald am Thalia in der Gaußstrasse eindrücklich gelungen, die Worte des Briefwechsels aus dem gleichnamigen Buch (Verlag KiWi 2011)  zwischen der jüngeren Albrecht-Schwester und der Ponto-Tochter mit einer bemerkenswerten klaustrophobischen Intensität auf die Bühne zu bringen.

Corinna Ponto ist 20 Jahre alt, als ihr Vater, der Vorstandssprecher der Dresdner Bank, in ihrem Zuhause in Oberursel ermordet wird. Julia Albrecht ist erst 13, als ihre ältere Schwester Susanne den RAF-Mitgliedern Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar Zugang zum Haus ihres Patenonkels verschafft. Für beide Frauen ist das Leben fortan geprägt vom Ringen um Schuld sowie der Frage nach Verantwortung und Vergebung.

Die Freundschaft der beiden Familien, die mit dem Studium der Väter im Nachkriegs-Hamburg beginnt und in gegenseitige Patenschaften für die Töchter mündet, wird durch das Attentat brutal beendet. Während die Ponto-Witwe mit Corinna nach Amerika geht, „…fort aus diesem kranken Land“, sieht Julia, die Gymnasiastin in Othmarschen ihre Terroristen-Schwester nur noch auf Fahndungsplakaten – und sich selbst nur noch „als Schwester der Schwester“.

Das ist der Stoff aus dem griechische Tragödien sind.

Indem Regisseur Gernot Grünewald drei Frauen pro Familie in jeweils identischer Kleidung und gleicher Haarfarbe aber unterschiedlichen Alters ins Rennen schickt, macht er die Komplexität der Sichtweisen, der Empfindungen und des Erlebten über Generationen hinweg fühlbar. Da lehnt die junge Schwester in beiden Küchen apathisch an der Wand, da schrubbt die Mutter das Blut aus dem Wohnzimmerteppich, während die andere Mutter schockiert am Telefon sitzt, da reißt die von den Erlebnissen erschöpfte Witwe wahllos die Schränke auf – und die Mutter…oder ist es die Großmutter…die Figuren lösen sich auf,  alles verschwimmt, weil es um eine Rollenfestlegung eben nicht geht, sondern um das Kaleidoskop an Perspektiven zweier Familien auch stellvertretend für Generationen.

Der Zuschauer möchte, dass sich die Frauen einfach mal in Ruhe hinsetzen, um die Texte aus den Vernehmungsprotokollen und dem Briefwechsel in Ruhe vorzutragen, und um sie Gewaltigkeit der Worte wirken zu lassen, statt hektisch um den Küchentisch zu rennen, auf- und abzudecken, hin- und herzuräumen.
Man will Ruhe reinbringen, sich einen Überblick verschaffen, ausatmen, aber das Stück lässt das eben nicht zu, genauso wenig, wie es die Umstände damals zugelassen haben, als beide Familien am Abgrund der Katastrophe standen.

Also nimmt man die verzweifelte Hektik hin, das Hantieren und Rennen und Räumen in der Beengung der Wohnung. Wieso Grünewald aber noch eine Videokamera einbauen muss, die ihre disparaten Bilder aus dem menschlichen Getümmel auf die Dachfläche der Behausungen sendet, ist nicht nachvollziehbar. Noch mehr Blickwinkel braucht das Stück nicht, das sehenswert ist, weil es so viel erkennen lässt!

Patentöchter. Im Schatten der RAF
Ein Dialog von Julia Abrecht und Corinna Ponto. Thalia in der Gaußstrasse.
Regie: Gernot Grünewald, Musik: Daniel Sapir, Video: Jonas Plümke, Ausstattung: Michael Köpke, Dramaturgie: Susanne Meister
Mit: Alicia Aumüller (Julia 2), Sandra Flubacher (Corinna 1), Oda Thormeyer (Julia 1), Maria Magdalena Wardzinska (Corinna 2)
Sowie alternierend: Lina Bohn, Lina Ziebarth (Corinna 3) und Mila Nitzel, Julia Menk (Julia 3)

Nächste Vorstellungen: 5. und 9. Oktober, 7., 15., 24. November und 5. Dezember 2018, jeweils 20 Uhr.

4 Photos: „Patentöchter. Im Schatten der RAF“ Foto: Krafft Angerer

english text

Pate daughters. In the shadow of the RAF in the Hamburg Thalia Theater
By Julia Engelbrecht
09/24/2018
The area occupied by the set design is much smaller than the stage space, which rises darkly behind it. As if crammed into a shoebox, in a bungalow of the Republic of Bonn, there is a kitchen on the right with a living room behind it and on the left in the direct connection only separated by a thin wall, a living room with a kitchen behind it. Everything is housed in a small space, the two dwellings are almost identical, only mirrored. The tasteful furniture, the couch, the television with Rudi Carrell show, the cupboards, lamps and the tea set. Everything exudes tightness, compulsion and order.
So it must have felt even then Susanne Albrecht, not only socially and politically, but also at home with her parents in Hamburg and in the house of her godfather Jürgen Ponto in Oberursel, where she does the incomprehensible on July 30, 1977. So unbelievable that even 40 years after the RAF murder the oppression, grief and desperation of these two families, between the perpetrator family and the victim family painfully experienced on this premiere night.
With his staging of „Patent Officers“, a dialogue between Julia Albrecht and Corinna Ponto, director Gernot Grünewald at Thalia in Gaussstrasse has impressively succeeded in exchanging the words of the correspondence from the book of the same name (KiWi 2011) between the younger Albrecht sister and the Ponto Daughter with a remarkable claustrophobic intensity to stage.

Corinna Ponto is 20 years old when her father, the CEO of Dresdner Bank, is murdered in her home in Oberursel. Julia Albrecht is only 13 when her older sister Susanne, the RAF members Brigitte Mohnhaupt and Christian Klar provides access to the house of her godfather. For both women life is henceforth marked by the struggle for guilt as well as the question of responsibility and forgiveness.
The friendship of the two families, which begins with the study of fathers in post-war Hamburg and flows into mutual sponsorships for the daughters, is brutally ended by the assassination. While the Ponto widow goes to America with Corinna, „… away from this sick country“, Julia, the high school student in Othmarschen, only sees her terrorist sister on wanted posters – and only „sister’s sister“ herself.
This is the stuff of Greek tragedies.
Director Gernot Grünewald sends three women in each family, each dressed in identical clothing and the same hair color but age, into the race, making the complexity of the perspectives, sensations and experiences felt over generations. As the young sister in both kitchens apathetically leans against the wall, as the mother scrubs the blood from the living room carpet, while the other mother sits shocked on the phone, the widow exhausted by the experiences indiscriminately tears open the cupboards, while the mother .. .or is it the grandmother … the figures disintegrate, everything blurs, because it is not about setting a role, but about the kaleidoscope of perspectives of two families also representing generations.

The viewer wants the women to just sit down and calmly recite the texts from the interrogation protocols and the correspondence, and let them use the power of words instead of rushing around the kitchen table to cover and cover up, back and forth. You want to bring peace, get an overview, exhale, but that does not allow the piece just as little as the circumstances allowed then when both families were on the brink of disaster.
So you take the desperate rush, the handling and racing and spaces in the constriction of the apartment. However, why Grünewald has to install a video camera that sends its disparate images of the human turmoil on the roof surface of the housing is incomprehensible. The piece does not need even more viewing angles, which is worth seeing, as it can be seen so much.

Author: Julia Engelbrecht-Schnür

Journalistin

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