3. Oktober 2015 – Tag der Deutschen Einheit – Ein persönliches Statement

East Side Gallery, ehemalige Mauer an der Grenze Friedrichshain zu Kreuzberg © Holger Jacobs

3. Oktober 2015 – Tag der Deutschen Einheit – Ein persönliches Statement

Von Holger Jacobs

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3.10.2015

Liebe Kulturfreunde,

 

an diesem denkwürdigen Tag soll es von mir kein Wort zum Sonntag geben, aber ein paar Worte seien erlaubt.

Sehr häufig wird man gefragt, was man an dem oder dem Tag getan hat, als das oder das passiert ist. Besonders beim 11. September 2001 wird diese Frage immer wieder gestellt, weil dieses Ereignis uns so in das Gedächtnis eingebrannt wurde. Was ich am ersten Tag der Deutschen Einheit, dem 3. Oktober 1990, tat, kann ich noch genau sagen.

 

Ich saß im 11. Stock der Uni-Klinik von Münster in der gynäkologischen Abteilung neben meiner Frau und unserem 2 Tage vorher geborenen Sohn. Für uns war also nicht nur eine neue politische Ära angebrochen, sondern auch eine neue Zeit als Eltern. Heute nun ist dieser Junge ebenfalls 25 Jahre alt und wieder vermischt sich Politisches mit Privatem. Immer, wenn also der Tag der Einheit gefeiert wird, muss ich daran denken, wie ich im Krankenhaus am Abend auf dem Balkon stand und über Münster schaute und vergeblich nach Böllern und Feuerwerkskörpern Ausschau hielt. Denn damals vor 25 Jahren war davon in Münster nichts zu sehen. Während in Berlin groß gefeiert wurde, passierte im Rest der alten BRD nicht viel. Die Bürger von Westdeutschland schienen nicht unbedingt in Feierlaune zu sein, zu frisch und neu war diese ungewohnte Situation, plötzlich mit der ehemaligen DDR einen gemeinsamen Staat zu bilden. Mir ging es da ganz anders, ich war natürlich unheimlich in Feierlaune, aber vielleicht auch aus anderen Gründen.

 

Verstehen konnte ich die Menschen schon. Gerade meine Generation, die den Kalten Krieg noch sehr intensiv miterlebt hatte, hätte sich niemals vorstellen können, dass beide deutsche Staaten je vereinigt würden. Zu tief war das jahrzehntelange Misstrauen gegenüber denen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs. Sie hassten uns und wir hassten sie. So schien es. Vor allem, wenn man mal als Westdeutscher versucht hatte nach Westberlin mit dem Auto durch die DDR zu fahren. Wenn man an den Kontrollpunkten mit den maschinenbewaffneten Soldaten der Volksarmee und den Stacheldrahtzäunen vorbei musste, argwöhnisch beobachtet von hohen Wachtürmen, kam man sich vor, als würde man freiwillig in ein KZ einfahren. Und auf der ganzen Fahrt über die Transitstrecke bis zum Kontrollpunkt Westberlin lag einem die Angst im Nacken. Und das sollten unsere neuen Freunde werden? Schwer vorstellbar.

Tag der Deutschen Einheit - East Side Gallery, Mühlenstrasse, Berlin-Friedrichshain, © Holger Jacobs

12 Bilder: Tag der Deutschen Einheit – East Side Gallery, Mühlenstrasse, Berlin-Friedrichshain, © Holger Jacobs

So bleibt das Fazit, dass nicht nur der Fall der Mauer, sondern auch die Wiedervereinigung ein Wunder ist. Obwohl ich nie ein großer Freund von Helmut Kohl war, so muss ich heute anerkennen, dass er diese Situation damals richtig eingeschätzt hat. Seine Idee war es, im allgemeinen Rausch der Fall der Mauer auch gleich die Wiedervereinigung durchzuziehen, später wäre sie nie mehr gekommen.

 

Um nicht nur von mir zu erzählen, möchte ich am Schluss noch auf ein sehr schönes Buchprojekt aufmerksam machen, welches zum Tag der Deutschen Einheit von Robert Eysoldt und Andreas Stedmann initiiert wurde: 100 Statements zu Deutschland in Form von 100 Briefen:

100 Briefe an Deutschland“, erschienen im Nicolai-Verlag. Hier ein Auszug aus einem Brief von Eleonora Frolov, einer deutschstämmigen, deren Familie 1941 beim Angriff der Nazis auf Russland nach Sibirien verschleppt worden war und von denen nur wenige überlebt haben. Durch den Fall der Mauer und die neue Politik von Gorbatschow war es ab 1989 möglich geworden auszuwandern. Somit kam sie 1990 mit ihren Angehörigen als Übersiedlerin nach Deutschland. Und irgendwie passen diese Zeilen auch in unsere Zeit der Flüchtlingskrise 2015:

 

„Liebes Deutschland,
……. Wir verließen Russland in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Ich durfte sogar meinen Siam-Kater Juno mitnehmen. Er bekam einen eigenen Reisepass. Wir machten uns auf in die „alte“ Heimat. Nur mein Birkenwäldchen passte nicht in unseren Überseecontainer. Man hatte gehört, dass die Erde in Europa eine andere sein soll. Die Zeit in Deutschland verlief nach unserer Ankunft 1990 wie im Flug, irgendwie fühlte ich mich gleich zu Hause, auch wenn ich die neue „alte“ Heimat erst noch zu der meinen machen musste. Vieles funktioniert hier, das habe ich schnell erfahren. Ich konnte Sprachen lernen, Freunde gewinnen, studieren und viel reisen. Neugier trifft auf Möglichkeiten und das wurde meine neue selbstbestimmte Freiheit. Deine Eleonora“

Eleonora Frolow "100 Briefe an Deutschland", Nicolai Verlag

12 Bilder: Eleonora Frolov „100 Briefe an Deutschland“, Nicolai Verlag

Author: Holger Jacobs

Founder & Editorial Director of kultur24.berlin ug.
Founder & Editorial Director of kultur24 TV on Youtube.
Former correspondent for fashion in Paris.
Photographer, writer and filmmaker.

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