1-06 Berlin – eine neue Ausstellungsform erobert Berlin
Von Holger Jacobs
28.08.2024
Die wundersame Wiederbelebung verfallener Orte durch Kunst und Kultur
Am 28. Juni 2023 schlenderte ich mit einem Freund die obere Friedrichstrasse (wo sie bald in die Chausseestrasse mündet) entlang und blieb an einem Holzverschlag stehen, hinter dem wir Stimmengewirr und Musik vernahmen.
Mein Freund und ich traten ein in die Friedrichststrasse Nr. 112b und nahmen eine bunte Gesellschaft war, die irgendetwas zu feiern schien.
Hier muss gesagt werden, dass dieser Ort sich in einem der zwei 100 Jahre alten Mietshäuser befindet, welche zu dem neu entstandenen Wohn- und Bürokomplex gehört, welches auf dem Gelände rund um das ehemalige TACHELES in Berlin-Mitte gebaut wurde.
In dem auch das neue Museum FOTOGRAFISKA entstanden ist, über das ich bereits mehrfach seit seiner Eröffnung im Herbst 2023 berichtet habe.
Die beiden alten Häuser an der Friedrichstrasse 112 (in der sich auch der frühere Club KING SIZE befand) sind die einzigen, an die sich die Investoren des „Am Tacheles“ noch nicht herangewagt und somit ihren ursprünglichen, verfallenen Zustand seit 1945 erhalten haben.
Zur Erinnerung:
Nach der politischen Wende mit dem Ende der ehemaligen DDR im Jahre 1990 kamen viele Künstler, Abenteurer und Alternative nach Ostberlin (ehemalige Sowjetische Zone), wo es viele alte Gebäude gab, die seit dem Ende des 2. Weltkrieges nicht mehr renoviert wurden, weil der DDR-Regierung eine Restaurierung und Instandsetzung dieser Bauten aus der Jahrhundertwende (Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts) zu aufwendig erschien und der Bau simpler, aber funktionstüchtiger Plattenbauten billiger und schneller zu realisieren war.
Damit standen 1990 viele dieser alten, halb verfallenen Schmuckstücke leer und schienen niemandem zu gehören – der Traum jedes Kreativen, der nicht viel Geld hat, aber „Space“ braucht.
So entwickelte sich nach der Wende in den 90er Jahren hauptsächlich in Berlin-Mitte eine lebendige Kunstszene, mit Künstlerateliers und Galerien, von denen heute eigentlich nur noch die KW Kunstwerke existieren, die mittlerweile auch institutionalisiert sind und einer Stiftung gehören.
Deren ehemaliger Mitbegründer ist übrigens kein geringerer als KLAUS BIESENBACH, der später Direktor des MOMA (Museum of Modern Arts in New York) wurde und heute Direktor der Berliner Nationalgalerie ist…
Zurück zum Abend des 28. Juni 2023:
Mein Freund und ich betraten also den Innenhof dieses verfallenen Hauses und stellten fest, dass es sich um eine Veranstaltung besonderer Art handelte: Ausstellungen von Malerei und Skulptur in den halb verfallenen Erdgeschoss-Räumen und Musik und Tanz-Performances im Hof mit anschließender Party und DJ.
Schnell lernte ich die Veranstalterin kennen: ANJA BIEN.
Zusammen mit einem Kollektiv Gleichgesinnter hatte sie dieses Event auf die Beine gestellt, indem sie diesen Ort für die Sommermonate gemietet hatte, um ihren Traum von einer neuen Form des Miteinander von Künstlern, Sammlern, Kunstliebhabern und Partyvolk zu verbinden. Mit sichtlichem Erfolg.
1-06 Berlin
ANJA BIEN stammt ursprünglich aus der Nähe von Frankfurt am Main und war vor 15 Jahren nach Berlin gezogen, um Psychologie zu studieren.
Nach ihrem Studium gründete sie eine Plattform für mentale Gesundheit und begann nebenbei in die faszinierende Welt der Kunst und ihrer Ausführenden einzutauchen.
Aber auch die Vergangenheit der Stadt Berlin, repräsentiert durch die alten, verfallenen Häuser und ehemaligen Fabrikgebäude, ließ sie nicht los, so dass eines Tages die Idee entstand, beides zu verbinden:
„1-06 Berlin – Under (De) Construction“ war geboren.
Der Name „1-06 Berlin“ gründet sich auf die Hausnummer Torstrasse 106 in Berlin-Mitte, ein Haus, welches ebenfalls lange leer stand und ANJA BIEN ursprünglich als ihren Ausstellungsort auserkoren hatte – bis es plötzlich doch verkauft, grundsaniert und mit Mietswohnungen belegt wurde. Somit mussten andere Orte gesucht werden.
Der Wilhelminenhof in Oberschöneweide
Nach der Friedrichstrasse 112b im letzten Jahr sollte es nun für ANJA BIEN in diesem Jahr eine Spur größer werden.
Die Wahl viel auf eine ehemalige Batteriefabrik von VARTA aus den 1910er Jahren bzw. das dazugehörige Arbeiterwohlfahrtsgebäude, gebaut 1912 gleich neben der Fabrik.
Am 13. August 2024 erhielt ich eine Einladung von „1-06 Berlin“ zu einer Vernissage in eben dieser ehemaligen Batteriefabrik in der Wilhelminenhofstrasse 68 in Berlin-Oberschöneweide mit dem Titel „ZWISCHENRÄUME“.
Ein Blick auf Google Maps zeigte mir eine Reihe alter Fabrikgebäude, die neben einer ganzen Reihe anderer schon perfekt restaurierter Häuser, wie z.B. dem Peter-Behrens-Bau liegt, den der Architekt gleichen Namens 1917 nebenan für die damalige Nationale Automobil Gesellschaft errichten ließ (heute ein Büro- und Universitätsgebäude).
Des weiteren poppte eine Website des Immobilienentwicklers TROCKLAND auf, der das Anwesen dieser Wilhelminenhofstrasse 68 bereits erworben hatte und einen Bauantrag eingereicht hat. Doch ANJA BIEN kann bis Jahresende hier ihre Kunstausstellungen organisieren, bevor die Handwerker kommen und das Gebäudeensemble ins 21. Jahrhundert befördern.
„Zwischenräume – (In) Between Spaces“
Der Titel der Ausstellung „Zwischenräume“ sagt viel über die Ideen von ANJA BIEN und ihren Vorstellungen von einer neuen Art der Kunstpräsentation.
Dabei geht es nicht nur darum Kunst zu zeigen, wie sie üblicherweise in Galerien gezeigt wird.
Galerien, die auch gerne als „White Cubes“ bezeichnet werden, wegen ihrer weißen Wände, der einheitlichen, schattenlosen Beleuchtung, ohne musikalischen Hintergrund und nur mit einem minimalistischem Interieur bestuhlt.
Nein, es geht viel mehr darum ein lebendiges Ensemble von Kunst, Menschen, und Musik zu erschaffen, eingerahmt von verfallenen Wänden, die selbst viel Geschichte erzählen können.
Alles ist in Allem und da-zwischen der Mensch.
In den 60er Jahren hätte man so etwas vielleicht als „Happening“ bezeichnen können.
Damals aber waren die Zuschauer nur Betrachter des Geschehens.
Doch bei ANJA BIEN sind die Gäste Teil des Ganzen und fügen sich ein in eine bunte Mischung aus Malerei, Fotografie, Video, Musik, live Performance und historischem Gebäude.
Kommt die Kunst dabei zu kurz? Nein, finde ich nicht.
Jede Disziplin kann ihre Wirkung entfalten. Und jeder Gast kann sich entscheiden, ob er durch die Ausstellungsräume flanieren, sich die Musik anhören, zu den Klängen des DJ’s tanzen oder auch nur seinen Drink genießen und mit seiner Freundin knutschen möchte.
Alles gehört zusammen, alles bildet eine Einheit.
Somit wurde dann die Einweihungsfeier am 24. August 2024 zu einem großen Erfolg.
Auf 6000 qm Ausstellungsfläche verteilt auf 15 Räume und drei Ebenen.
Auch andere Akteure haben dieses Konzept von Kunstpräsentationen für sich entdeckt.
Die Ausstellungsmacherin ANNA BOROWY entwickelte die Kunstreihe „I SEE YOU“, bei der sie mit Künstlern wie Lars Eidinger (zurzeit mit einer Einzelausstellung im K21 in Düsseldorf) , Martin Eder oder Jonas Burgert eine riesige Halle der ehemaligen Reichsbahn, genannt „Napoleon Komplex“, in Berlin bespielte.
Und das MUSEUM BIESENTHAL hat mit seinem Format „Wehrmühle Offsite“ diesen Sommer eben jene Friedrichstrasse 112b mit Kunst, Musik und Tanz bereichert, in der noch vor einem Jahr ANJA BIEN ihre ersten Schritte mit ihren „Happenings“ einschließlich Dinner für 60 Gäste unter freiem Himmel wagte (Foto siehe oben).
Noch gibt es unrenovierte und geheimnisvolle Orte in Berlin.
Doch wie lange noch?
Bis dahin werden wir hoffentlich noch viele wunderbare Ausstellungen unter den Namen „1-06 Berlin“ erleben.
Die ausgestellten Künstler:
Alexei Cerrone, Ernst Burkel, Christine Fenzl, Julija Goyd, Marjoleine Boonstra, Martin Eberle, Michael Sellmann, Monty Richthofen, Yasmina Dexter, Tom Neubauer.
„Zwischenräume“
1-06 Berlin
Wilhelminenhofstrasse 68
12459 Berlin-Oberschöneweide
Die nächsten Veranstaltungen in der Wilhelminenhofstrasse 68 finden jeweils am Samstag, den 7. und 14. September 2024, statt.
Für Infos über weitere Aktionen und Ausstellung klickt hier
Oder auf dem Instagram-Account
Bilderserie mit 12 Fotos von „(In) Between Spaces“:
English Text
1-06 Berlin – a new form of exhibition conquers Berlin
By Holger Jacobs
The miraculous revival of dilapidated places through art and culture
On June 28, 2023, I was strolling along the upper Friedrichstrasse (where it soon flows into Chausseestrasse) with a friend and stopped at a wooden shed behind which we heard a babble of voices and music.
My friend and I entered to Friedrichststrasse No. 112b and noticed a colorful group that seemed to be celebrating something.
It must be said here that this place is located in one of the two old apartment buildings that belong to the newly built residential and office complex that was built on the site around the former TACHELES in Berlin-Mitte.
In which the new FOTOGRAFISKA museum was also built in the former TACHELES, which I have already reported on several times since its opening in autumn 2023.
The two old houses at Friedrichstrasse 112 (which also housed the former KING SIZE club) are the only ones that the investors of “Am Tacheles” have not yet dared to touch and have thus retained their original, dilapidated state since 1945.
As a reminder:
After the political change with the end of the former GDR in 1990, many artists, adventurers and alternatives came to East Berlin (former Sovjet Zone), where there were many old buildings that had not been renovated since the end of the Second World War because the GDR government felt that restoring and repairing these buildings from the turn of the century (late 19th, early 20th century) was too expensive and to build simple, but functional prefabricated buildings, is cheaper and quicker to do.
As a result, in 1990 many of these old beautiful houses were empty and seemed to belong to no one – the dream of every creative person who doesn’t have much money but needs „space“.
So after the change in the 1990s, a lively art scene developed mainly in Berlin-Mitte, with artists‘ studios and galleries, of which today only the KW KUNSTWERKE (Augustrasse 68) still exist, which are now institutionalized and belongs to a foundation.
Its former co-founder is none other than KLAUS BIESENBACH, who later became director of the MOMA (Museum of Modern Arts in New York) and is now director of the Neue Nationalgalerie in Berlin…
Back to the evening of June 28, 2023:
So my friend and I entered the courtyard of this half-ruined house and realized that it was a special kind of event: exhibitions of paintings and sculptures in the ground floor rooms and music and dance performances in the courtyard followed by a party and DJ.
I quickly got to know the organizer: ANJA BIEN.
Together with a collective of like-minded people, she had set up this event by renting this place for the summer months to combine her dream of a new form of togetherness between artists, collectors, art lovers and party people.
With obvious success.
1-06 Berlin
ANJA BIEN originally comes from near Frankfurt am Main and moved to Berlin 15 years ago to study psychology.
After her studies, she founded a platform for mental health and began to delve into the fascinating world of art and its performers.
But the past of the city of Berlin, represented by the old, half-ruined houses and former factory buildings, also stuck with her, so one day the idea arose to combine the two:
„1-06 Berlin – Under (De) Construction“ was born.
The name „1-06 Berlin“ is based on the house number Torstrasse 106 in Berlin-Mitte, a house that had also been empty for a long time and which ANJA BIEN had originally chosen as her exhibition location – until it was suddenly sold, completely renovated and occupied with rental apartments.
So other locations had to be found.
The Wilhelminenhof in Oberschöneweide
After Friedrichstrasse 112b last year, things were going to get a little bigger for ANJA BIEN this year.
The choice fell on the former VARTA battery factory from the 1910s and the associated workers‘ welfare building, built in 1912 right next to the factory.
On August 13, 2024, I received an invitation from „1-06 Berlin“ to a vernissage in this very former battery factory at Wilhelminenhofstrasse 68 in Berlin-Oberschöneweide with the title „ZWISCHENRÄUME – (In) Between Spaces“.
A look at Google Maps showed me a row of old factory buildings next to a whole series of other perfectly restored buildings, such as the Peter Behrens building, which the architect of the same name had built next door in 1917 for the then National Automobile Company (now an office and university building).
Furthermore, a website popped up for the real estate developer TROCKLAND, who had already purchased the property at Wilhelminenhofstrasse 68 and submitted a planning application.
But ANJA BIEN can organize her art exhibitions here until the end of the year, before the craftsmen come and bring the building into the 21st century.
Zwischenräume – (In) Between Spaces
The title of the exhibition “(In) Between Spaces” says a lot about ANJA BIEN’s ideas and her concept of a new way of presenting art.
It’s not just about showing art as it is usually shown in galleries.
Galleries that are also often referred to as “white cubes” because of their white walls, uniform, shadowless lighting, no musical background and only minimalist interior seating.
No, for ANJA BIEN it’s much more about creating a living ensemble of art, people and music, framed by ruined walls that can tell a lot of history themselves.
All in all and people in between.
In the 1960s, something like this could perhaps have been called a “happening”. Back then, however, the audience was not part of the performance.
But at ANJA BIEN, the guests are part of the whole and blend into a colorful mixture of painting, photography, video, music, live performance and historical buildings.
Is the art neglected by all the things which are happening beside? No, I don’t think so.
Every discipline can have its effect.
And every guest can decide whether they want to stroll through the exhibition rooms, listen to the music, dance to the sounds of the DJ or just enjoy their drink and smooch their girlfriend…
Everything belongs together, everything forms a unit.
Thus, the inauguration ceremony on August 24, 2024 was a great success.
6000 square meters of exhibition space spread over 15 rooms and three levels.
Recently, other art organizer have also discovered this form of exhibition for themselves.
The exhibition organizer ANNA BOROWY developed the art series „I SEE YOU“, in which she used a huge hall of the „Napoleon Complex“ with artists such as Lars Eidinger, Martin Eder and Jonas Burgert.
And this summer, with its “Wehrmühle Offsite” format, the MUSEUM BIESENTHAL has enriched Friedrichstrasse 112b with art, music and dance, where just a year ago ANJA BIEN took her first steps with her “happenings”, including dinner for 60 guests in the open air (see photo above).
There are still unrenovated and mysterious places in Berlin.
But how long will that last?
Until then, we will hopefully experience many more wonderful exhibitions under the name „1-06 Berlin“.
The artists exhibited at „Zwischenräume“:
Alexei Cerrone, Ernst Burkel, Christine Fenzl, Julija Goyd, Marjoleine Boonstra, Martin Eberle, Michael Sellmann, Monty Richthofen, Yasmina Dexter, Tom Neubauer.
„Zwischenräume“
1-06 Berlin
Wilhelminenhofstrasse 68
12459 Berlin-Oberschöneweide
The next events at Wilhelminenhofstrasse 68 will take place on Saturday, September 7th and 14th, 2024.
For information about further events and exhibitions, click here
Or on the Instagram account
My series of 12 photos from „(In) Between Spaces“:
Author: Holger Jacobs
Founder & Editorial Director of kultur24.berlin ug.
Founder & Editorial Director of kultur24 TV on Youtube.
Former correspondent for fashion in Paris.
Photographer, writer and filmmaker.