Ich weiß nicht, was ein Ort ist – René Pollesch – Volksbühne Berlin
Von Holger Jacobs
30.10.2024
Wertung: 🙂 🙂 🙂 🙂 🙂 (fünf von fünf)
Der im Februar verstorbene René Pollesch gibt hier noch einmal sein Meisterstück ab
Als ich am 24. Oktober abends vor der Volksbühne stehe versuche ich mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal hier war.
Ist es wirklich schon drei Jahre her, dass ich „Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen“ gesehen habe? Es war die erste Premiere des damals neuen Intendanten RENÉ POLLESCH am 16. September 2021 (mit MARTIN WUTTKE).
Mein Kollege Marty Sennewald hatte noch zwischendurch über die Premiere von „Sturm und Drang-die Geschichte der deutschen Literatur“ am 5. Juni 2022 berichtet (ebenfalls mit MARTIN WUTTKE in der Hauptrolle).
Nach dem Ende der Corona-Pandemie und dem Ende der verschiedenen Lock-Downs hatte ich Schwierigkeiten wieder in die Theaterszene hineinzufinden.
Außerdem konnte ich weder mit den Titeln noch den Inhalten der Stücke in der Volksbühne etwas anfangen.
Die katastrophale Hinterlassenschaft des früheren Intendanten CHRIS DERCON (2017 – 2018) hatte große Lücken im Budget des Theaters hinterlassen.
Viele Schauspieler des hervorragenden Ensembles unter FRANK CASTORF waren gegangen (worden), fast alle Regisseure ebenfalls und aus dem früheren Repertoire war nichts mehr übrig.
Und nun kam RENÉ POLLESCH.
Aber außer seinen eigenen Stücken konnte ich nicht viel Spannendes entdecken.
Und dann starb er plötzlich. Ganz unerwartet. Am 26. Februar 2024.
Der Theaterkritiker SIMON STRAUß von der F.A.Z. schrieb: „Pollesch konnte komische Register ziehen, er konnte bitterböse Pointen verfassen, rasante Dialoge schreiben, postdramatische Zeitenwenden grell bebildern. Aber was er vor allem konnte, war die Theorie wirkungsvoll auf die Bühne zu bringen.“
All das passt auch haargenau auf diese aus dem Jahr 2018 stammende Inszenierung „Ich weiß nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis“ von RENÉ POLLESCH
Der Premierenabend
Kaum, dass ich das Theater betrete, habe ich wieder dieses typische „Volksbühnen-Gefühl“.
Dieses Gefühl besteht aus dem Haus, den Leuten, der Geruch, dem Gewusel und dem Stimmengewirr.
Natürlich haben auch alle anderen Theaterhäuser ihre individuellen Erscheinungsformen, aber die Volksbühne hat eben ein ganz besonderes Flair!
Drinnen erwartet mich ein hell erleuchteter Saal mit schon geöffneter Bühne.
Laut ist der Song „Independent Women“ von den DESTINY CHILD (frühere Band von BEYONCÉ) zu hören.
Und dann geht’s los:
Aus einem schwarz-weiß gestreiften Vorhang treten M (MARTIN WUTTKE), R (MARIE-ROSA TIETJEN) und K (KATHRIN ANGERER) hervor und beginnen einen Dialog.
Zunächst erzählen sie sich, dass sie als Schauspieler gerade eine 6-stündíge Aufführung von Shakespeares „Sommernachtstraum“ hinter sich haben, sich daran aber gar nicht mehr erinnern können.
Waren sie überhaupt dar?
Im Laufe des Abends werden aus diesen sechs Stunden bis zu 24 Stunden (unter großem Gelächter der Zuschauer) – sicher eine Anspielung auf FRANK CASTORFS letzter „Faust“ Inszenierung an der Volksbühne 2017, die mehr als sieben Stunden dauerte. Der Vorhang fiel damals erst um 1.00 Uhr morgens…
POLLESCHS besondere Begabung waren seine eigenen Theaterstücke mit seinen eigenen Texten, die er auch stets selbst inszenierte.
Oft kommen einem diese Stücke ziemlich absurd vor, ohne eigentliche Handlung.
Für mich haben sie etwas Surreales, wie ein Bild von Salvador Dali.
Das Besondere sind die Texte von RENÉ POLLESCH.
Seine Sprache ist von einer ganz eigenen Qualität.
Sie hat nicht die Eleganz eines Goethe, nicht die Dramatik eines Schillers, aber sie hat einen hintergründigen Witz, der durch für alle wiedererkennbare Themen in einfacher Sprache ausgedrückt wird, die aber nicht wirklich einen Sinn ergeben.
Wie z.B.: „Weißt Du, Du hast zwei Möglichkeiten, aber Du bietest mir nichts an“.
Sowohl der erste Teil, wie auch der zweite Teil dieses Satzes sind einfach zu verstehen, nur in ihrer Reihenfolge ergeben sie keinen Sinn.
Und so ist fast sein ganzer Text.
Immer wieder fängt er mit leicht verständlichen Themen an und lässt sie dann durch geschickte Wortwahl scheinbar ins Leere verlaufen.
Schon der Titel allein zeigt dieses Verwirrspiel.
In „Ich weiß nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis (Manzini Studuen)“ gibt es drei Hautthemen, die sich durch drei Worte über den ganzen Text hinziehen: „DRAMA“, „TERROR“, „KNACKS“.
Besonders das letzte Wort „KNACKS“ benutzt POLLESCH in allen Variationen seiner Bedeutung:
Es kann sich hierbei sowohl um einen seelischen Knacks, wie aber auch um einen Sprung in einer Schüssel handeln.
Schön auch der Satz „Otto Sander hatte mal 150 Schaltungen in einer Szene – er war wie ein lebendes Relais“.
So hat der Zuschauer ein ständiges Schmunzeln auf den Lippen, ohne dass man in brüllendes Gelächter ausbricht.
Und man bleibt immer in höchster Aufmerksamkeit, um diesem Text folgen zu können. Denn wenn man den Anschluss verliert, könnte man ja einen wesentlichen Teil versäumen.
Der Titelzusatz „Manzini Studien“ soll laut POLLESCH auf seinen häufigen Besuch des Lokals MANZINI in der Ludwigkirchstr. 11 in Berlin-Charlottenburg zurückzuführen sein, wo er angeblich den Text geschrieben hat.
„Ich weiß nicht, was ein Ort ist..“ war eine Auftragsarbeit für das Theater Zürich und kam dort am 14. Dez. 2028 zur Uraufführung.
Und wurde jetzt für die Volksbühne Berlin übernommen.
Sozusagen posthum.
Zum Glück konnte dasselbe Schauspiel-Ensemble, wie bei der Züricher Uraufführung, gewonnen werden.
Mit MARTIN WUTTKE ein absolutes Highlight der Schauspiel- und Sprachkunst.
Aber auch Kathrin Angerer mit ihrer kindlichen Fispelstimme ist für die Komik des Stücks sehr wichtig.
Das es einen Wasserfall durch eine Projektion und die Hand von KING KONG als Bühnendekoration gibt, soll nur am Rande erwähnt werden.
Denn all diese optischen Dinge dienen nur zur Umrahmung der Sprache.
Fazit: Eines der besten Theaterstücke, die ich seit langer Zeit gesehen haben. Besonders wegen diesem hochintelligenten Text, der meine Nervenzellen 90 Minuten in Anspannung hielt und mir außerordentlich viel Vergnügen bereitete. Eine Empfehlung für jeden, der Theater, Sprache und Schauspielkunst liebt.
„Ich weiß nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis“ – Manzini Studien
Text und Inszenierung: René Pollesch
Volksbühne Berlin
Uraufgeführt am 14.12.2028 in Zürich.
Bühne: Barbara Steiner, Kostüme: Sabin Fleck
Mit: Martin Wuttke, Kathrin Angerer, Marie Rosa Tietjen
Bilderserie mit vier Fotos der Theaterproduktion:
Author: Holger Jacobs
Founder & Editorial Director of kultur24.berlin ug.
Founder & Editorial Director of kultur24 TV on Youtube.
Former correspondent for fashion in Paris.
Photographer, writer and videographer.