Sturm und Drang in der Volksbühne Berlin

"Sturm und Drang", Volksbühne Berlin, Martin Wuttke, Foto: Thomas Aurin

Sturm und Drang in der Volksbühne Berlin

 

Von Marty Sennewald

05.06.2022

texte francais

Sturm und Drang – die Geschichte der deutschen Literatur Teil I

Der fünfunddreißigjährige französische Regisseur Julien Gosselin holt die Giganten der deutschen Literaturgeschichte auf die Bühne.
Nach seinen erfolgreichen Inszenierungen von Michel Houellebecqs „Elementarteilchen“ und Roberto Bolanos „2666″ in Avignon, sollen es diesmal – und das erste Mal für Gosselin in Deutschland – die Edelfedern Goethe und Thomas Mann sein, die in prominenter Rolle für eine Geschichte der deutschen Literatur einstehen.

Auf die Frage, welche Beziehung er zum deutschen Theater habe, antwortet der Regisseur: „Ich spreche die Sprache nicht, verstehe sie nur ein bisschen. Deutsche Regisseur*innen sind in Frankreich Helden, weil wir es nie verstanden haben, unsere Theater so zu dekonstruieren wie sie. In Frankreich machen wir Theater alleine und zeigen es dann an verschiedenen Theaterhäusern. Hier macht man Theater innerhalb eines Hauses. In Frankreich bin ich mein eigenes Haus, (…).“

Und was für ein Haus sich Gosselin ausgesucht hat, dürfte zumindest dem Berliner Theaterpublikum ein Begriff sein.
Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und eng mit ihr verbunden der Name Frank Castorfs, der so lange und eindringlich die Intendanz an diesem Haus ausübte, dass sein Name noch immer durch die Flure geistert, sich neues noch immer an seinen Namen zu messen hat.

Volksbühne Berlin, Photo: Holger Jacobs

Rückblende: 2017 inszeniert Castorf seinen Abgesang auf ein Vierteljahrhundert Intendanz. Das Stück: Goethes Faust, brachial und gewaltig, sieben Stunden Schauspieldauer. In der Hauptrolle: Martin Wuttke.

Und Wuttke kehrt an diesem Abend zurück, nicht als Faust, sondern als Goethe selbst, der rumorend und zerfressen, zynisch am Ende, Castorf selbst einige Worte zuraunt.

Man spielt mit dem Haus und seinem Erbe.

Das Spielen selbst ist allerdings vom Zuschauerraum nur bedingt zu sehen.
Auf drei gewaltigen Leinwänden beginnt düster und schaurig ein Name aufzuleuchten.
Wetzlar. 1771.
Horrorklischees und Thrilleratmosphäre. Regen prasselt gegen die Scheiben. Draußen herrscht tiefste Nacht.
Wir finden uns in einer Szene aus den Leiden des jungen Werthers“ wieder.
Lotte zeigt Werther einen kleinen Vogel. Sie habe dem Vogel gelehrt, sie zu küssen, habe ihm Futter im Munde gereicht. Dann übergibt sie das Tier. Werther schaut es an. Nimmt er den Kuss auf Umwegen entgegen? Nein.
Er beißt dem Tier das Köpfchen ab, zerkaut es und Blut läuft ihm über das Kinn.

„Die Leiden des jungen Werther, Foto: H.-P. Haack -cc-Wikimedia Commons

Dann setzt laut und gewaltig Musik ein. Riesige Lettern, schwarz auf weiß, knallen dem Publikum entgegen. Sturm und Drang. Thomas Mann. Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Gottlieb Klopstock, Friedrich Hölderlin.

Szenenwechsel. Das Hotel Elephant in Weimar. 44 Jahre später.
Charlotte Kästner, geborene Buff, reist mit ihrer Tochter in die Stadt Goethes.
Sie will ihn wiedersehen. Goethe.
Den Menschen, der ihr Leben unwiederbringlich verändert hatte. Den Menschen, der in seinem Jugendroman ihre Person hatte eingeflochten, und ihr ein Leben in Öffentlichkeit und Neugierde aufbürdete.
Wir sind im Roman Lotte in Weimar“ von Thomas Mann, 1939 aus dem Exil veröffentlicht.
Auf der Bühne die Fassade des Hotels. Doch das Schauspiel findet im Inneren statt.
Man sieht nur hie und da einen Kopf am Fenster. Doch die drei großen Leinwände werden noch immer bespielt.
Richard Klemm und Gian Suhner jagen über drei Stunden mit ihren Kameras bewaffnet durch das Stück und übertragen intime Einblicke aus dem Inneren, Nahaufnahmen und erschaffen eine kinoreife, düstere Szenerie.

„Lotte in Weimar“, Fischer Verlag, Foto: H.-P. Haack-cc-Wikimedia Commons

Die beiden Lottes, sowohl jene aus dem Werther, als auch jene von Thomas Mann, werden von der französischen Schauspielerin Victoria Quesnel gespielt.
Sie gibt der Inszenierung ungemeine Qualität. Die raue Unbeherrschtheit einer fremden Sprache steigert sich durch das Stück und lässt Szenen, die heute pathetisch und überpoetisiert erscheinen mögen, in einem ehrlichen Glanz radikaler Sprachgewalt leuchten.

Victoria Quesnel -c- Victoria Quesnel/ Facebook

Wer den Roman „Lotte in Weimar“ nicht gelesen hat, dem dürften die ersten Szenen etwas wahllos und unzusammenhängend vorgekommen sein.
Doch eigentlich hält Julien Gosselin den literarischen Vorlagen die Treue, bringt Szenenablauf und Gespräche originalgetreu auf die Bühne.
Aber wer bekommt das heute schon noch mit? Stunden später, bei Gesprächen in der Kantine, frage ich viele, wer das Buch denn gelesen habe. Ich finde niemanden.

Schauspiel-Urgestein Hendrik Arnst spielt den Pagen Mager, meine persönliche Lieblingsrolle, die mir schon im Roman außerordentlich gefiel. Nur düsterer als die Vorlage.
Die ganze Zeit regnet es, immer ist es Nacht, und immer scheint die Welt in Finsternis zu liegen.

Zwischen den Strängen dieser beiden Bücher entwickelt sich das Stück, bis nach zwei Stunden endlich Martin Wuttke auf die Bühne tritt.
Allerdings noch nicht in der Rolle des Dichterfürsten, sondern als pädophiler Gustav Aschenbach aus Thomas Manns Tod in Venedig“.

„Thomas Mann – Der Tod in Venedig“ © Fischer Verlag

Jetzt überschlagen sich die Bezüge und Anleihen. Hier ist es noch Gustav Aschenbach. Dort Goethe.
Jetzt prangt opulent eine an Wagners Rheingold erinnernde Bühnenfassade vor dem Hotel und die drei Rheinschwestern tanzen um den alternden Schriftsteller.
Das Stück gerät etwas ins Strudeln. Konzentration ist gefragt und gute Kenntnis der deutschen Literaturlandschaft. Streckenweise gedehnt und langwierig wird das Stück.
Aber das muss so sein, denke ich mir. Und auch wenn in der letzten halben Stunde die Türen unentwegt geöffnet werden – viele müssen aufs Klo, kommen aber zurück, viele bleiben gleich draußen – die Inszenierung hat mich geschafft.
Auch Goethe muss dran glauben. Er wird am Ende erschossen. Erschöpft gehe ich nach draußen.
Durch die Flure geistert der Name Castorf.
Erst draußen, der Theatervorplatz liegt in einer milden Sommernacht, wird es still.

In den nächsten Spielzeiten sollen noch zwei weitere Abende unter dem Titel „Sturm und Drang“ in der Volksbühne folgen.

„Sturm und Drang“, Max Klinger © Kindle Verlag

Sturm und Drang – die Geschichte der deutschen Literatur Teil I
Premiere war am 03.06.2022
Volksbühne Berlin
Spieldauer: 3 Std. ohne Pause
Regie: Julien Gosselin, Bühne: Lisetta Buccellato, Kostüme: Caroline Tavernier
Mit: Victoria Quesnel, Martin Wuttke, Hendrik Arnst, Benny Claessens, Rosa Lembeck, Emma Petzet, Marie Rosa Tietjen.

Bilderserie mit 5 Fotos der Produktion:

Victoria Quesnel, „Sturm und Drang“, Volksbühne Berlin, Foto: Thomas Aurin

 

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Sturm und Drang – l’histoire de la littérature allemande I

 

Par Marty Sennewald


06/05/2022

Le réalisateur français de trente-cinq ans Julien Gosselin met en scène les géants de l’histoire littéraire allemande.
Après ses mises en scène réussies des Particules élémentaires de Michel Houellebecq et de 2666 de Roberto Bolano à Avignon, cette fois – et pour la première fois pour Gosselin en Allemagne – ce seront les précieuses plumes de Goethe et Thomas Mann qui joueront un rôle prépondérant dans une histoire de Littérature allemande.

Interrogé sur son rapport au théâtre allemand, le metteur en scène répond : « Je ne parle pas la langue, je ne la comprends qu’un peu. Les réalisateurs allemands sont des héros en France parce qu’on n’a jamais compris comment déconstruire nos salles comme eux. En France, on fait du théâtre seul et on le montre ensuite dans différents théâtres.
Ici on fait du théâtre dans une maison. En France, je suis ma propre maison, (…).

Et le genre de maison que Gosselin a choisi devrait au moins être familier au public du théâtre berlinois.
La Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz et qui lui est étroitement associée porte le nom de Frank Castorf, qui a été responsable de ce bâtiment pendant si longtemps et avec tant d’insistance que son nom hante encore les couloirs, et les nouveautés doivent encore être mesurées à l’aune son nom.

Volksbühne Berlin, Photo: Holger Jacobs

Flashback: En 2017, Castorf met en scène ses adieux à un quart de siècle de réalisateur. La pièce : Le Faust de Goethe, brutal et puissant, sept heures de jeu. Avec : Martin Wuttke.
Et Wuttke revient ce soir-là, non pas en tant que Faust, mais en tant que Goethe lui-même, qui gronde et ronge, cyniquement à la fin, chuchote quelques mots à Castorf lui-même.

Jeux avec la maison et son héritage.

Cependant, le jeu lui-même ne peut être vu que dans une mesure limitée depuis l’auditorium. Un nom commence à s’allumer sombrement et étrangement sur trois écrans géants.
Wetzlar. 1771.
Clichés d’horreur et ambiance thriller. La pluie crépite contre les vitres. Il fait nuit noire dehors.
On se retrouve dans une scène des „Die Leiden des jungen Werther“.
Lotte montre à Werther un petit oiseau. Elle a appris à l’oiseau à l’embrasser, lui a donné de la nourriture dans sa bouche. Puis elle remet l’animal. Werther le regarde. Accepte-t-il le baiser d’une manière détournée ? non Il mord la tête de l’animal, la mâche et du sang coule sur son menton. Ensuite, une musique forte et puissante commence.

„Die Leiden des jungen Werther, Foto: H.-P. Haack -cc-Wikimedia Commons

Des lettres énormes, noir sur blanc, claquent contre le public. Tempête et stress. Thomas Mann. Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Gottlieb Klopstock, Friedrich Hölderlin.

Changement de décor. L’hôtel Elephant à Weimar.
44 ans plus tard. Charlotte Kästner, née Buff, voyage avec sa fille dans la ville de Goethe. Elle veut le revoir. Goethe.
La personne qui a changé sa vie pour toujours. La personne qui avait tissé son personnage dans son roman pour jeunes adultes et l’avait chargée d’une vie de publicité et de curiosité.
Nous sommes dans le roman „Lotte à Weimar“ de Thomas Mann, écrit dans l‘ exil, publié en 1939.
Sur la scène la façade de l’hôtel. Mais le drame se passe à l’intérieur.
Vous ne voyez qu’une tête à la fenêtre ici et là.
Mais les trois grands écrans sont toujours utilisés.
Richard Klemm et Gian Suhner, armés de leurs caméras, parcourent la pièce pendant plus de trois heures et transmettent des aperçus intimes de l’intérieur, des gros plans et créent un paysage sombre cinématographique.

„Lotte in Weimar“, Fischer Verlag, Foto: H.-P. Haack-cc-Wikimedia Commons

Les deux Lotte, à la fois celles de Goethe et de Thomas Mann, sont jouées par l’actrice française Victoria Quesnel.
Elle donne à la mise en scène une qualité incroyable. L’absence brutale de maîtrise d’une langue étrangère s’accentue tout au long de la pièce et laisse briller des scènes qui peuvent aujourd’hui paraître pathétiques et trop poétiques d’un franc éclat de violence linguistique radicale.

Victoria Quesnel -c- Victoria Quesnel/ Facebook

Pour ceux qui n’ont pas lu le roman „Lotte à Weimar“, les premières scènes ont pu sembler quelque peu aléatoires et incohérentes.
Mais en réalité Julien Gosselin reste fidèle aux modèles littéraires, mettant en scène l’enchaînement des scènes et des conversations fidèles à l’original.
Mais qui obtient cela de nos jours? Quelques heures plus tard, lors de conversations à la cantine, j’interroge beaucoup de gens qui ont lu le livre. Je ne trouve personne.
Le vétéran par intérim Hendrik Arnst joue la page Mager, mon rôle préféré personnel, que j’ai beaucoup aimé dans le roman. Juste plus foncé que l’original. Il pleut tout le temps, il fait toujours nuit et le monde semble toujours plongé dans l’obscurité.
La pièce se développe entre les fils de ces deux livres jusqu’à ce qu’après deux heures, Martin Wuttke apparaisse enfin sur scène. Cependant, pas encore dans le rôle du prince poète, mais dans celui du pédophile Gustav Aschenbach de „Der Tod in Venedig“ de Thomas Mann.
Maintenant, les références et les liens roulent.
Ici, c’est encore Gustav Aschenbach. Là, Goethe. Désormais, une façade de scène opulente rappelant l’Or du Rhin de Richard Wagner est ornée devant l’hôtel et les trois Sœurs du Rhin dansent autour de l’écrivain vieillissant.

„Thomas Mann – Der Tod in Venedig“ © Fischer Verlag

La pièce devient un peu lente. Concentration requise et bonne connaissance du paysage littéraire allemand.
La pièce devient étirée et fastidieuse par endroits. Mais c’est comme ça que ça doit être, je pense. Et même si les portes ne cessent de s’ouvrir pendant la dernière demi-heure – beaucoup doivent aller aux toilettes, mais reviennent, beaucoup restent dehors tout de suite – la mise en scène l’a fait pour moi.
Même Goethe doit y croire. Il se fait tirer dessus à la fin. Je sors épuisé.
Le nom de Castorf hante les couloirs.
Ce n’est qu’à l’extérieur, le parvis du théâtre se trouve par une douce nuit d’été, qu’il devient calme.

„Sturm und Drang“, Max Klinger © Kindle Verlag

Sturm und Drang – l’histoire de la littérature allemande partie I
La première a eu lieu le 3 juin 2022
Volksbühne Berlin
Durée : 3 heures sans pause
Mise en scène : Julien Gosselin, Scénographie : Lisetta Buccellato, Costumes : Caroline Tavernier
Avec : Victoria Quesnel, Martin Wuttke, Hendrik Arnst, Benny Claessens, Rosa Lembeck, Emma Petzet, Marie Rosa Tietjen.

Serie des image de la production theatre:

Victoria Quesnel, „Sturm und Drang“, Volksbühne Berlin, Foto: Thomas Aurin

 

Author: Marty Sennewald

Marty Sennewald promoviert zurzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin im Fach „vergleichende Literaturwissenschaft“. 

Daneben ist er als freiberuflicher Schriftsteller und Musiker tätig, lebt und arbeitet in Berlin.

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