Cassandra an der Staatsoper Berlin Unter den Linden

"Cassandra" - Jessica Niles - Staatsoper Berlin - ph: Stephan Rabold

Cassandra an der Staatsoper Berlin Unter den Linden

 

Von Holger Jacobs

23.06.2025

for english text click here

Wertung: 🙂 🙂 (zwei von fünf)

Umweltaktivisten und griechische Mytologie

Auch wenn sich die Welt seit dem 24. Februar 2022, dem Überfall Russlands auf die Ukraine, hauptsächlich mit kriegerischen Auseinandersetzungen beschäftigt, bleibt doch ein Thema immer auf der Agenda:
Der Klimawandel.

Genau das ist das Thema, welches sich der belgische Organist und frühere Intendant der Brüsseler Oper, BERNARD FOCCROULLE für seine erste und vermutlich auch einzige Oper genommen hat.
Um die Problematik dieser lebensbedrohenden Klimaveränderung auf der Bühne darzustellen, wählte sein Librettist MATTHEW JOCLYN nicht die Aneinanderreihung wissenschaftlicher Fakten, sondern das Phänomen, warum immer noch nicht genügend getan wird, um die Katastrophe zu verhindern:
Der Unglaube an wissenschaftliche Fakten und das Nichtzuhören wollen über die Gefahren, die uns beim Negieren der Tatsachen erwarten.
Denn die Ungläubigen hören einfach nicht zu!

Cassandra in der griechischen Mythologie

Genau zu diesem Phänomen des Nichtzuhörens fand Librettist MATTHEW JOCELYN eine Entsprechung in der Antike:
CASSANDRA, aus der altgriechischen Mythologie.
Sie ist die Tochter von PRIAMOS, dem König von Troja und dessen Frau Hekabe.

Cassandra (mitte) mit Priamos (links), Fresko aus Pompeji, ca. 50 v.Chr.

Auf Grund CASSANDRAS Schönheit gab der Gott APOLLON ihr die Gabe der Weissagung.
Weshalb sie den Untergang von Troja voraussagen konnte.
Doch als sie seinen Verführungskünsten standhält, verflucht er sie, auf dass niemand ihren Weissagungen Glauben schenken möge.
Und nun muss CASSANDRA verzweifelt mitansehen, wie Troja in einem Massaker untergeht, weil keiner dort ihr Glauben schenken wollte.

„Troja“, Jean Maublanc, 17. Jahrhundert

Bei Homer kommt die schöne Tochter CASSANDRA bereits vor, aber noch ohne ihren Fluch.
Erst 300 Jahre später schrieb AISCHYLOS im Jahre 458 v.Chr. in seinem Werk „Agamemnon“ von CASSANDRA als Weissagerin, der keiner Gehör schenken wollte.

Cassandra (Katarina Bradic), Apollo (Joshua Hopkins), Staatsoper Berlin, ph: Stephan Rabold

„Cassandra“ von Bernard Foccroulle

Komponist BERNARD FOCCROULEE und sein Librettist MATTHEW JOCELYN verknüpfen diese Erzählung aus der griechischen Mythologie mit einer Figur aus der heutigen Zeit:
Eine gewisse Sandra Seymour (JESSICA NILES) ist eine Umweltaktivistin, der die Zuschauer bei ihren Auftritten nicht zuhören, außer sie benutzt die Bühne als Stand-Up-Comedian, was aber den ernsten Inhalt ihres ursprünglichen Auftritts noch unglaubwürdiger werden lässt.

„Cassandra“, Sandra (Jessica Niles), Staatsoper Berlin, ph: Holger Jacobs

Bei einer dieser gescheiterten Auftritte lernt Sandra den Altphilologen Blake (VALDEMAR VILADSEN) kennen und lieben.

Joshua Hopkins( Apollo), Jessica Niles (Sandra), Staatsoper Berlin, ph: Stephan Rabold

In 13 Bildern wechseln sich nun Szenen aus der Neuzeit mit Sandra (JESSICA NILES) und Szenen aus der Antike mit Cassandra (KATARINA BRADIC) ab.
Von der Zerstörung Trojas (herabfallende Styropor-Quader und hingemetzelte Menschen) über Szenen mit Sandra und ihren Eltern, die genauso wenig ihrer Tochter Glauben schenken, wie der Rest um sie herum, bis zum Zusammenkommen beider Hauptfiguren im Schmerz um ihre Liebsten am Ende der Oper. Denn Blake stirbt bei einer Arktis-Expedition.

Kritik

Das Beste an diesem Abend ist die Grundidee der Handlung.
Die Verknüpfung der Schicksale zweier Figuren, denen man nicht zuhört, obwohl ihre Botschaft doch über Leben und Tod so vieler Menschen entscheidet, ist ein spannender Gedanke.

Bei der Umsetzung hapert es aber.
Die Stand-Up-Comedian Szenen von Sandra nimmt man ihr nicht ab.
Die Liebeszenen mit ihrem Freund Blake wirken lächerlich und das Zusammenkommen am Schluss von Sandra und Cassandra erscheint zu gewollt.
Und die Idee, dass Zuschauer bei einem Podiumsauftritt einer Umweltaktivistin nicht zuhören würden, ist erst Recht unrealistisch.
Wer mal einem Vortrag von Umweltaktivistinnen wie LUISA NEUBAUER, GRETA THUNBERG oder CARLA REEMTSMA beiwohnte weiß, dass dabei andächtiges bis anbetungswürdiges Zuhören herrscht.
Aber gut, gemeint ist sicherlich die eher ablehnende Haltung konservativer Bürger und Politiker (einschließlich des jetzigen US-Präsidenten), die wider besseren Wissens jede Umweltpolitik ablehnen.
Die würden aber auch nie zu einer Podiumsdiskussion mit LUISA NEUBAUER kommen…

Das Bühnenbild (FABIEN TEIGNÉ) ist mit einem 5×5 Meter großen Kubus, der mal Videoleinwand, mal Styropor-Mauer und mal Arktis-Eis darstellen soll, so minimalistisch, dass es keine Wirkung entfalten kann.

Kommen wir zur musikalischen Seite des Abends.
Ich weiß ja nicht, wie häufig Ihr schon zeitgenössische Opern gehört habt, aber für sensible Ohren ist das immer ein schwieriges Unterfangen.
Die Musik von BERNARD FOCCROULLE (*1953) würde ich als eine Mischung von Anfang des 20. Jahrhunderts (speziell bei der Chormusik) und Anfang des 21. Jahrhunderts einordnen.
Während die Chöre noch sehr harmonisch klingen, wird es bei den Gesangspartituren schon deutlich disharmonischer, erst Recht, wenn nur sinfonisch musiziert wird und dann nur noch einzelne Töne erklingen – einschließlich Bienen-Summen.

Da leider keine Foto, bzw. TV Probe für die Presse angeboten wurde, kann ich Euch auch keine Hörprobe per Video, wie sonst üblich, liefern.
Aber Ihr könnt gerne mal in mein Video vom 3. Okt. 2020 mit einem Ausschnitt der Oper „Quartett“ nach Heiner Müller von dem italienischen Komponisten LUCA FRANCESCONI (*1956) reinhören.
Der Ausschnitt von 4.28 Minuten, der bisher von über 2,5 Millionen Zuschauern auf meinem YouTube-Kanal kultur24 TV gesehen wurde, lässt recht gut die Art von Musik einer zeitgenössischen Oper erahnen.
So wisst Ihr ungefähr, was Euch bei BERNARDC FOCCROULLE erwarten würde.

Die beiden Sopranistinnen KATARINA BRADIC (Cassandra) und JESSICA NILES (Sandra) machen ihre Sache gut und singen diese nicht einfache Partitur von schnellen Wechseln von hoch zu tief sehr überzeugend.
Bei den Männern hat mir besonders JOSHUA HOPKINS als Apollo gefallen. Bösewichter zu spielen (und zu singen) ist ja immer ein besonders dankbares Sujet.
Grauenhaft schlecht war dagegen VALDEMAR VILLADSEN als Sandras Liebhaber Blake.
Erstens sah er als Liebhaber zu alt und zu langweilig aus. Zweitens konnte er überhaupt nicht singen.

Wie ich später im Programmheft lass, ist die gesamte Produktion, einschließlich Bühnenbild und aller Sängerinnen und Sänger, vom Brüsseler Opernhaus  „La Monnaie“ übernommen worden, weshalb es in Berlin auch nur fünf Auftritte gibt.

Fazit: Für Fans von zeitgenössisch-klassischer Musik.
Für echte Umweltaktivisten aber nicht geeignet.

Nächste Vorstellungen: am 25. Juni, 3. und 11. Juli 2025

„Cassandra“ von Bernard Foccroulle
Libretto: Matthew Jocelyn
Uraufführung war am 10. Sept. 2023 in Brüssel
Premiere an der Staatsoper Berlin war am 19. Juni 2025.
Musikalische Leitung: Anja Bihlmaier
Regie: Marie-Eve Signeyrole
Bühne: Fabien Teigné
Kostüme: Yashi
Chor der Staatsoper Berlin
Mit: Katarina Bradic (Cassandra) und Jessica Niles (Sandra)

Bilderserie mit 11 Fotos von der Aufführung „Cassandra“:

„Cassandra“, Sarah Defrise (Naomi), Katarina Bradic (Cassandra), Staatsoper Berlin, ph: Stephan Rabold

 

English text

 

Cassandra at the Berlin State Opera Unter den Linden

 

By Holger Jacobs


June 23, 2025

Rating: 🙂 🙂 (two of five)

Environmental Activists and Greek Mythology

Even though the world has been primarily concerned with military conflicts since February 24, 2022, when Russia invaded Ukraine, one topic remains on the agenda:
Climate change.

This is precisely the topic that the Belgian organist and former artistic director of the Brussels Opera, BERNARD FOCCROULLE, has chosen for his first and probably only opera.
To portray the problem of this life-threatening climate change on stage, his librettist, MATTHEW JOCLYN, chose not a string of scientific facts, but rather the phenomenon of why not enough is still being done to prevent the catastrophe:
Disbelief in scientific facts and the unwillingness to listen to the dangers that await us when we deny the facts.
Because the unbelievers simply don’t listen!

Cassandra in Greek mythology

Librettist Matthew Jocelyn found an analogy in antiquity for precisely this phenomenon of not listening:
CASSANDRA, from ancient Greek mythology.
She is the daughter of Priam, the King of Troy, and his wife Hecuba.

Cassandra (mitte) mit Priamos (links), Fresko aus Pompeji, ca. 50 v.Chr.

Because of Cassandra’s beauty, the god Apollo gave her the gift of prophecy.
Which is why she was able to predict the fall of Troy.
But when she resists Apollo’s seductive powers, he curses her so that no one will believe her prophecies.
And now Cassandra must watch in despair as Troy falls in a massacre because no one there would believe her.

„Troja“, Jean Maublanc, 17. Jahrhundert

The beautiful daughter Cassandra already appears in Homer, but without her curse.
It wasn’t until 300 years later, in 458 BC, that Aeschylus wrote about her in his work “Agamemnon” of CASSANDRA as a fortune teller who no one wanted to listen to.

Cassandra (Katarina Bradic), Apollo (Joshua Hopkins), ph: Stephan Rabold

„Cassandra“ by Bernard Foccroulle

Composer BERNARD FOCCROULEE and his librettist MATTHEW JOCELYN intertwine this tale from Greek mythology with a modern-day figure:
A certain Sandra Seymour (JESSICA NILES) is an environmental activist whose audiences don’t listen to her performances unless she uses the stage as a stand-up comedian, which, however, makes the serious content of her original performance even more unbelievable.

„Cassandra“, Jessica Niles (Sandra), Staatsoper Berlin, ph: Holger Jacobs

During one of these failed performances, Sandra meets and falls in love with the classicist Blake (VALDEMAR VILADSEN).

Joshua Hopkins( Apollo), Jessica Niles (Sandra), Staatsoper Berlin, ph: Stephan Rabold

In 13 scenes, scenes from modern times with Sandra (JESSICA NILES) alternate with scenes from ancient times with Cassandra (KATARINA BRADIC).
From the destruction of Troy (falling Styrofoam blocks and slaughtered people) to scenes with Sandra and her parents, who have just as little faith in their daughter as everyone else around her, to the reunion of the two main characters in their grief for their loved ones at the end of the opera. Blake dies on an Arctic expedition.

Critics

The best thing about this evening is the basic idea of ​​the plot.
The intertwining of the fates of two characters whose fates aren’t listened to, even though their message decides the life and death of so many people, is an exciting idea.
But the execution is flawed.
Sandra’s stand-up comedian scenes aren’t believable.
The love scenes with her boyfriend Blake seem ridiculous, and Sandra and Cassandra’s reunion at the end seems too forced.
And the idea that viewers wouldn’t listen to an environmental activist during a podium appearance is even more unrealistic.
Anyone who has ever attended a lecture by environmental activists like Luisa Neubauer, Greta Thunberg, or Carla Reemtsma knows that the listening to them is anything but reverent and even worshipful.
But well, what is meant is certainly the rather negative attitude of conservative citizens and politicians (including the current US President) who, despite knowing better, reject all environmental policies.
But they would certainly never come to a panel discussion with Luisa Neubauer

Luisa Neubauer, ph: Holger Jacobs

The set design (Fabian Teigné), a 5×5 meter cube that is sometimes meant to represent a video screen, sometimes a Styrofoam wall, and sometimes Arctic ice, is so minimalist that it fails to create any emotional impact.

Let’s move on to the musical side of the evening.
I don’t know how often you’ve heard contemporary operas, but for sensitive ears, it’s always a difficult undertaking.
I would classify the music of BERNARD FOCCROULLE (*1953) as a mixture of the early 20th century (especially the choral music) and the early 21st century. While the choirs still sound very harmonious, the vocal scores become significantly more disharmonious, especially when the music is only symphonic and then only individual notes can be heard – including the buzzing of bees.
Unfortunately, since no photo or TV rehearsal was offered to the press, I can’t provide you with a video sample, as is usually the case.

But you are welcome to listen to my video from October 3, 2020, featuring an excerpt from the opera „Quartett“ based on Heiner Müller by the Italian composer LUCA FRANCESCONI (*1956).
The 4.28-minute excerpt, which has so far been seen by over 2.5 million viewers on my YouTube channel kultur24 TV, gives a pretty good idea of ​​the type of music a contemporary opera would be like.

So you know roughly what to expect from BERNARDC FOCCROULLE.
The two sopranos, KATARINA BRADIC (Cassandra) and JESSICA NILES (Sandra), did a great job, singing this certainly not easy score with its rapid changes from high to low notes very convincingly.
Among the men, I particularly liked JOSHUA HOPKINS as Apollo.
Playing (and singing) villains is always a particularly rewarding subject.
VALDEMAR VILLADSEN, on the other hand, was horribly bad as Sandra’s lover, Blake.
First, he looked too old and too boring as a lover. Second, he couldn’t sing at all.
As I later read in the program, the entire production, including the stage design and all the singers, was taken over by the Brussels opera house „La Monnaie,“ which is why there are only five performances in Berlin.

Conclusion: For fans of contemporary classical opera.
But not suitable for true environmental activists.

Next performances: June 25, July 3, and July 11, 2025

„Cassandra“ by Bernard Foccroulle
Libretto: Matthew Jocelyn
World premiere in Brussels on September 10, 2023
Premiere at the Berlin State Opera on June 19, 2025.
Musical Director: Anja Bihlmaier
Director: Marie-Eve Signeyrole
Stage Design: Fabien Teigné
Costumes: Yashi
Chorus of the Berlin State Opera
Featuring: Katarina Bradic (Cassandra) and Jessica Niles (Sandra)

Picture series with 12 photos from „Cassandra“:

„Cassandra“, Sarah Defrise (Naomi), Katarina Bradic (Cassandra, Staatsoper Berlin, ph: Stephan Rabold

 

 

Author: Holger Jacobs

Founder & Editorial Director of kultur24.berlin ug.
Founder & Editorial Director of kultur24 TV on Youtube.
Former correspondent for fashion in Paris.
Photographer, writer and videographer.

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