Iphigenie im Schauspiel Frankfurt

Iphigenie - Schauspiel Frankfurt © Jessica Schaefer

Iphigenie im Schauspiel Frankfurt

 

Von Dr. Andrea Claussen

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09.10.2016

Intro

Seid Ihr mutig und möchtet eintauchen in die blutgetränkte Welt der Familiengeschichte von Iphigenie? Die „Iphigenie“ von Nachwuchsregisseur Ersan Mondtag stellt einen Kontrast zu bekannten Seh- und Hörgewohnheiten des gelegentlichen Theaterbesuchers.

Regisseur Ersan Mondtag hat sich für diesen Theaterabend mit dem Iphigenie-Mythos auseinandergesetzt und seinen eigenen Zu- und Ausgang erfunden. Gemeinsam mit seinem Bühnenbildner Stefan Britze und dem Komponisten Max Andrzejewski schafft er für das Schauspiel Frankfurt eine musikalische, bildgewaltige und weitgehend nonverbale Neu-Erzählung des Stoffes.

Inhalt und Kritik

Die klassische Erzählung der Iphigenie, Tochter von Agammemnon und Klytämnestra, die als Priesterin im Artemistempel auf Tauris lebt und die Aufgabe hat, jeden, der auf die Insel kommt, zu weihen und zu töten, wird neu erzählt. Iphigenie ist eine ausdrucksstarke Performance mit Tanz- und Musik, die den Überlebenskampf und die Opferrituale der angekommenen Fremden schonungslos dem hoffentlich nicht zart besaiteten Zuschauer demonstriert. Hier wird nicht gekleckert, hier wird geklotzt und Wasser gespritzt. Hier gibt es Nacktheit und Körperlichkeit als Ausdrucksmittel des Menschlichen, ohne Effekthascherei. Im Kontrast dazu steht die emotionale Unberührtheit des Tempelpersonals.

Die Bühne besteht fast komplett aus einem Swimmingpool. Das Element Wasser, aus dem alles entspringt, der Mensch, das Tier, die Pflanze, der Flüchtling, ist allgegenwärtig. Das Stück im Kammerspiel beginnt mit intensivem Flackerlicht, fast unerträglich. Blutrote Dunkelheit spiegelt sich im Wasser des Pools, eine vermeintliche Poolparty, die keine ist, sondern ein Überlebenskampf jeder mit jedem, gegen jeden, von ent-individualisierten Körpern, ohne eigene Stimme.

Es gibt keine Rolle, die einer Person zugeschrieben ist. Es gibt keinen Text, der einer Person zugeschrieben ist. Es wird, wenn gesprochen wird, kollektiv skandiert. Bevor der Vorhang aufgeht, hört man eine Art Herzschlag, regelmäßig, dann unregelmäßig. Aus der nassen Tiefe erklimmt eine nackte weibliche Kreatur die Bühne während eine Tempeldienerin affirmativ in einer Art altgriechisch (oder ist es eine Phantasiesprache?) zu uns spricht.

Die Kreatur stöhnt, sie schreit, sie windet sich in ungelenken Bewegungen, sie versucht auf die Beine zu kommen, strauchelt, fällt, wieder und wieder. Wir sind Zeugen eines dramatischen Versuchs, unter Schmerzschreien auf die Beine zu kommen – und es nicht zu schaffen. Wir können nicht helfen – und auf der Bühne und im Zuschauerraum gibt es nur stoische Beobachter der Szene.

Die ersten Besucher verlassen das Theater. Aber es sind nur wenige. Ein netter freundlicher Theaterabend hätte es werden können…wenn uns nicht dieser hochgelobte Nachwuchsregisseur einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Ersan Mondtag konfrontiert, schockiert, alarmiert.

Lange werde ich die Szene nicht vergessen, wo an einer späteren Stelle die Flüchtlinge sich regelrecht am Busen der aufnehmenden Tempelpriesterin weiden wollen, es sind viele, zu viele für zwei Brüste, sie verlangen, sich saugen, sie stoßen sich gegenseitig weg. Bis die Priesterin nicht mehr kann. Es sind zu viele. Dann wenden sie sich von ihr ab. Das Blatt wendet sich.

Der zögerliche Applaus am Ende zeigt, dass diese Iphigenie keine leicht Kost ist. Der Applaus gilt möglicherweise zuallererst allen großartigen Darstellern, die nach einer Stunde und 15 Minuten ohne Pause triefend nass und körperlich erschöpft in Bademänteln den Applaus entgegennehmen. Sie haben alles gegeben.

Erst am nächsten Tag wird mir bewußt, dass ich einen ganz neuen Zugang zum sogenannten Flüchtlingsdrama gewonnen habe. Danke Ersan Mondtag.
Sehenswert!

Kammerspiel im Schauspiel Frankfurt
Neue Mainzer Straße 17
60311 Frankfurt am Main

Weitere Vorstellungen im Oktober: 29.10 2016 um 20:00 Uhr, 30.10.2016 um 18:00 Uhr

"Iphigenie" in den Kammerspielen des Schauspiel Frankfurt © Jessica Schäfer

8 Fotos: „Iphigenie“ in den Kammerspielen des Schauspiel Frankfurt © Jessica Schäfer

 

Author: Holger Jacobs

Founder & Editorial Director of kultur24.berlin ug.
Founder & Editorial Director of kultur24 TV on Youtube.
Former correspondent for fashion in Paris.
Photographer, writer and filmmaker.

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