Sasha Waltz – Exodos
Von Holger Jacobs
25.08.2018
🙂 🙂 🙂 🙂 (vier von fünf)
Migration als tanztheatralisches Drama
Wenn Sasha Waltz zu einer neuen Premiere ruft ist immer ein besonderer Moment vorherbestimmt. Am letzten Donnerstag wanderte die eingefleischte Fangemeinde in das Radialsystem am Spreeufer in Berlin, um sich die neuste Produktion der Sasha Waltz & Guests anzusehen.
Der Titel „EXODOS“ ist Programm. Hier kann es sich um nichts anderes handeln, als das hochbrisante Thema, welches Deutschland und Europa seit gut vier Jahren in Atem hält. Seit der Arabische Frühling in Syrien auf brutale Weise niedergebombt wurde, flohen gut 5 Millionen Bürger aus dem Land, um Leib und Leben zu retten. Weitere 6 Millionen sind innerhalb des Landes in andere Gebiete geflüchtet.
Doch nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in vielen weiteren Ländern dieser Welt müssen Menschen ihre Heimat verlassen. Sei es aus politischen, militärischen oder ökonomischen Gründen. 2017 war das Jahr mit den meisten Flüchtlingen weltweit. Grund genug, dass auch die Kunst und warum nicht auch das Tanztheater sich diesem Thema widmet.
Den Exodus (altgriechisch ἔξοδος ,Auszug‘, ‚Ausgang‘, daraus lateinisch exodus) kennen wir hauptsächlich aus dem Alten Testament, welches unter diesem Begriff den Auszug der Israeliten aus Ägypten beschreibt. Sasha Waltz wählte diesen Titel bewusst, um den Fortgang aus einem angestammten Gebiet allgemein zu halten. Das Wort „Migration“ wäre zu sehr mit der heutigen Situation verbunden, in der Tausende Flüchtlinge versuchen nach Europa zu kommen.
Umstände, die zu einem Exodus führen, gibt es aber schon, solange die Menschheit existiert. Immer dann, wenn ein Bleiben unmöglich wird, ist ein Lebewesen gezwungen aufzubrechen.
Sasha Waltz zeigt dies in symbolischen Bildern. In einem halben Dutzend schmaler Plexiglasgefäßen sind die Tänzer ihrer Kompanie so eingezwängt, dass sie kaum Luft zum Atmen zu haben. Andere wiederum kämpfen mit Seilen, die sie gefangen nehmen. Eine weitere schreibt das Wort „Hilfe“ auf einen Zettel, eine andere hält den Zuschauer, die sich während dieser Aktionen mitten unter den Protagonisten aufhalten, ein Skelett ihres verstorbenen Kindes entgegen. Wieder andere beginnen ihre Flucht zu planen. Eine Frau markiert mit weißer Kreide ihren Weg auf den Boden, damit andere ihr folgen können. Ein Tänzer stopft mit viel Hingabe seine Partnerin in einen Rucksack und marschiert damit durch den Raum.
Hier unsere Bilderserie:
Plötzlich kommt Bewegung in die 26 Tänzer*innen. Sie bilden nacheinander menschliche Hindernisse, die andere überwinden müssen. Wie Flüchtlinge, die sich durch Zäune und Absperrungen zwängen. Sogar ein Fahrrad wird mit durchgeschoben. Einige Zuschauer werden aufgefordert sich ihnen anzuschließen. Immer schneller wird die Gruppe der Flüchtlinge, bis sie nur noch einer menschlichen Woge gleicht; wie Lemminge, die sich ins Wasser stürzen – Hauptsache weg!
Nach diesem wahren „Exodus“ kommt eine Passage des Tanzes, in der weite Bewegungen von Armen und Körpern so wohl Freude wie Angst auszudrücken scheinen. Danach überwiegen wieder Einzelaktionen, bis alle gemeinsam einen neuen Weg gefunden haben und nach Techno Musik à là Club Berghain tanzen. Plötzlich sieht man eine Menschengruppe, die in einen Plexiglaskasten gezwängt wird und darin fast erstickt. Unwillkürlich denkt man an Schlepperbanden mit Flüchtlingen in engen Lieferwagen.
In der Schlusssequenz werden fluoresziernde Folien hineingebracht, die die Tänzer*innen sich aneignen, mit ihnen spielen, um sich schlingen oder einfach nur hochhalten. Eine Überleitung an Sasha Waltz‘ letzte Produktion, „Kreatur“, in der diese Materialen eine große Rolle spielen.
Insgesamt ein beeindruckender Abend, in dem das Thema ungewöhnlich, aber überzeugend, umgesetzt wurde. Besonders der erste Teil hat mir gefallen, am Ende wurde es etwas lang (2 1/2 Stunden Spielzeit), geschuldet auch den hohen Temperaturen im Raum (draußen herrschte mit 30 Grad noch einmal sommerliche Hitze).
Ein großes Bravo an die Tänzerinnen und Tänzer. Selbst mir als Zuschauer, der nur stehen oder sitzen musste, war der Schweiß in strömen den Rücken hinuntergeflossen.
„Exodos“
Regie und Choreographie: Sasha Waltz
Musik: Soundwalk Collective
Kostüm: Federico Polucci
Lichr: Urs Schönebaum
Bühne: Heke Schuppelius, Sasha Waltz
Tänzer*innen: Liza Alpizar Aguilar, Blenard Azizaj, Jiri Bartovanec, Davide Camplani, Clémtine Deluy, Davide Di Pretoro, Luc Dunberry, Charlotte Engelkes, Tian Gao, Peggy Grelat-Dupont, Hwanhee Hwang, Josh Johnson, Lorena Justribo Manion, Annapaola Leso, Margaux Marielle Tréhouart, Nicola Mascia, Thusnelda Mercy, Michal Mualem, Virgis Puodzuinas, Sasa Queliz, Zaratiana Randrianantenaina, Aladino Rivera Blanca, Yael Schnell, Corey Scott-Gilbert, Claudia de Serpa Soares, Stylianos Tsatsos
Nächste Vorstellungen bei der Ruhrtriennale in Bochum/ Jahrhunderthalle am 15., 16., 18., 19. und 20. Sept. 2018
Hier unsere Bilderserie mit den schönsten Momenten der Aufführung:
english text
Sasha Waltz – Exodus
By Holger Jacobs
08/25/2018
Migration as a dance-theatrical drama
When Sasha Waltz calls for a new premiere, a special moment is always predetermined. Last Thursday, therefore, the die-hard fan base wandered into the Radialsystem on the Spreeufer in Berlin to watch the latest production of the Sasha Waltz & Guests.
The title „EXODUS“ is program. This can not be anything other than the highly explosive topic that has kept Germany and Europe in suspense for a good four years. Since the Arab Spring in Syria threatened to fail brutally, more than 5 million people fled the country to save their lives. Another 6 million have fled to other areas within the country.
But not only in the Middle East, also in many other countries of the world, people have to leave their homeland. For political, military or economic reasons. 2017 was the year with the most refugees worldwide. Reason enough that also the art and why not the dance theater to devote themselves to this topic.
The exodus (ancient Greek ἔξοδος, excerpt ‚,‘ output ‚, from it Latin exodus) we know mainly from the Old Testament, which describes under this term the exodus of the Israelites from Egypt. Sasha Waltz deliberately chose this word to keep the progression from an ancestral area in general. The description „migration“ would be too closely linked to the current situation in which thousands of refugees try to come to Europe.
However, situations that are equivalent to an exodus exist as long as humanity exists. Whenever circumstances arise that make it impossible to stay, people are forced to leave.
Sasha Waltz shows this in symbolic pictures. In half a dozen narrow plexiglass vessels, the dancers of their company are so constrained that they have little air to breathe. Others fight with ropes that trap them. Another writes the word „Help“ on a piece of paper, another holds her deceased child. Others start to plan their escape. A woman marks her way to the ground with white chalk so that others can follow her. Another dancer packs his partner into a backpack and marches through her in the space. Suddenly there is movement in the 26 dancers. They form, one after the other, human obstacles that others must overcome. Like refugees, forcing their way through fences and barriers. Even a bike is pushed along. Some viewers are encouraged to flee with them. The group of refugees becomes faster and faster until they are just like a human wave, which like lemmings plunge into the water.
After this true „Exodus“ comes a passage of dance in which wide movements of the arms and the body seem to express both joy and fear. After that, single actions predominate again, until everyone has found a new way together and dance to techno music like at Club Berghain. Then you suddenly see a group of people being squeezed into a plexiglas box and suffocating in it. Memories of traffickers with refugees in narrow delivery vans are awakened.
In the final sequence, fluorescent slides are brought in, which the dancers acquire, play with, loop, or just hold up. A transition to Sasha Waltz’s latest production, „Creature“, in which these materials played a major role.
All in all, an impressive evening in which the topic was implemented unusually, but convincingly. Especially the first part I liked, at the end it was a bit long (2 1/2 hours playing time), owed also to the high temperatures in the room (outside prevailed with 30 degrees summer heat).
A big bravo! to the dancers. Even to me as a spectator who only had to stand or sit, the sweat had flowed down his spine.
„Exodus“ Director and Choreographer: Sasha WaltzMusic: Soundwalk Collective Costume: Federico PolucciLichr: Urs Schönebaum Stage: Heke Schuppelius, Sasha Waltz Dancers: Liza Alpizar Aguilar, Blenard Azizaj, Jiri Bartovanec, Davide Camplani, Clémtine Deluy, Davide Di Pretoro, Luc Dunberry, Charlotte Engelkes, Tian Gao, Peggy Grelat-Dupont, Hwanhee Hwang, Josh Johnson, Lorena Justribo Manion, Annapaola Leso, Margaux Marielle Tréhouart, Nicola Mascia, Thusnelda Mercy, Michal Mualem, Virgis Puodzuinas, Sasa Queliz, Zaratiana Randrianantenaina , Aladino Rivera Blanca, Yael Fast, Corey Scott-Gilbert, Claudia de Serpa Soares, Stylianos Tsatsos
Author: Holger Jacobs
Founder & Editorial Director of kultur24.berlin ug.
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Former correspondent for fashion in Paris.
Photographer, writer and filmmaker.