Premiere vom Staatsballett Berlin – 2 Chapters Love

2 Chapters Love, Staatsballett Berlin, ph: Holger Jacobs

Premiere vom Staatsballett Berlin – 2 Chapters Love

 

Von Holger Jacobs

13.12.2023

for english text click here

Wertung: 🙂 🙂 🙂 🙂 (vier von fünf)

Das Staatsballett Berlin feiert weitere Erfolge mit zwei modernen Tanzstücken

Manchmal ist es schon erstaunlich, wie das klassische Ballett und der moderne Tanz sich gegenüber stehen:
Eine große Fangemeinde bevorzugt nach wie vor das klassische Handlungsballett eines „Schwanensee“, einer „Giselle“ oder eines „Dornröschen“.
Demgegenüber stehen die Liebhaber des modernen Tanzes wie z.B. von den Choreographen William Forsythe, Jiri Kylian, Heinz Spoerli oder eben Sharon Eyal meisterhaft zelebriert.

Sogar bei den Kritikern spaltet sich die Meinung.
Wir alle haben noch die Auseinandersetzung zwischen dem genialen Choreographen Marco Goecke und der Kritikerin Wiebke Hüster der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Erinnerung. Recherchiert man etwas über ihre Kritiken moderner Tanzstücke, muss man feststellen, dass Frau Hüster die Klassik immer wieder in den Himmel hebt, die Moderne aber verdammt. Dabei müsste eine Kritikerin eigentlich unvoreingenommen sein.

Über solche negativen Meinungen muss sich die israelische Choreographin SHARON EYAL keine Gedanken machen.
Ihre Werke der zeitgenössischen Tanzkunst werden immer wieder hochgelobt und sie eilt von einem Höhepunkt zum nächsten.

„Stars like Moths“ (Sterne wie Motten)

Doch zunächst beschäftigen wir uns mit dem ersten Stück des Abends, „Stars like Moths“ der spanischen Choreographin SOL LÉON (Jahrgang 1969).
Die in Cordoba geborene Tänzerin kam 1987 zum Nederlands Dans Theater und tanzte unter anderem unter dem tschechischen Choreographen Jiri Kylian. Bereits zwei Jahre später begann sie mit dem britischen Tänzer Paul Lightfood (kein Scherz) gemeinsam eigene Stücke zu choreographieren.
Mittlerweile sind aus dieser Zusammenarbeit 60 Werke entstanden.
Erst im April dieses Jahres zeigten beide ihre Choreographien „Silent Screen“ von 2005 und „Schmetterling“ von 2010 mit großem Erfolg mit dem Bayerischen Staatsballett (Intendant Laurent Hilaire) in München.
In letzter Zeit begann SOL LÉON auch eigene Tanzstücke zu choreographieren. Der neue Intendant des Staatsballett Berlin, Christian Spuck, sah eine ihrer Arbeiten und lud sie nach Berlin ein.
Am vorletzten Sonntag erklärte SOL LÉON in einem Einführungsmatinee ihre Arbeitsweise.
Wie sie sagte, kommt es ihr bei den Tänzerinnen und Tänzern weniger auf die Technik an , sondern mehr auf den Ausdruck und das innere Gefühl der Darstellenden. Dabei ist für sie die Persönlichkeit der Tänzerin und des Tänzers sehr wichtig und wie er/ sie ihre Vorgaben interpretiert.

„“Stars like Moths“ beginnt mit der Primaballerina POLINA SEMIONOVA (gekleidet in einen schwarzen Blazer und schwarzen Hotpants), die, noch während das Publikum im Saal Platz nimmt, von der linken Seite langsam bis direkt vor die erste Sitzreihe schreitet.

Polina Semionova, „Stars like Moths“, ph: Holger Jacobs

Mit viel innerer Ruhe zieht sie sich hochhackige Pumps an und schaut vor sich hin, während sie einige Grimassen schneidet und Bewegungsübungen macht.
Wie eine Schauspielerin vor ihrem Auftritt.
Ein ebenfalls ganz in schwarz gekleideter Tänzer (MATTHEW KNIGHT) tritt hinzu und gibt ihr Stücke einer Wassermelone.
In einem zweiten Teil tanzen DANIELLE MUIR und ihr männlicher Partner MARTIN TEN KORTENAAR ein Pas de Deux.
Es scheint allerdings nicht ganz flüssig zu gehen und irgendwie gewinnt man den Eindruck, dass diese Szene aus einer Probensituation entstanden ist.
In der dritten Szene wird es nun für jeden verständlich:
Der Vorhang geht auf und es zeigt sich ein Raum mit Ballettstange und kahlen weißen Wänden.
Ganz offensichtlich handelt die gesamte Choreographie vom Training eines Tanz-Ensembles.
Dass die eine Zimmerwand halb schräg an der Decke hängt und die andere Wand schräg im Boden zu verschwinden scheint sind letztlich nur Zeichen dafür, dass bei Proben nicht alles glatt läuft und sich immer wieder Fehler einschleichen.
Das Schlussbild zeigt wieder POLINA SEMIONOVA, wie sie weiße Asche aufs Haupt bekommt, als Zeichen für die Kritik an sich selbst.

Fazit: Die Probensituation ist sicher eine interessante Idee. Der Titel will wahrscheinlich suggerieren, dass Tänzer wie Motten versuchen, dem Licht und damit der Vollendung immer näher zu kommen, ohne es je zu erreichen.
Leider war ich nicht ganz überzeugt. Proben haben sicher etwas Spannendes an sich, mich aber interessiert dann doch mehr das Endergebnis.

„Stars like Moths”
Choreographie: Sol Léon
Staatsballett Berlin
Uraufführung am 9. Dezember 2023

Bilderserie mit 8 Fotos aus „Stars like Moths“ von SOL LÉON:

Polina Semionova, „Stars like Moths“, ph: Holger Jacobs

„2 Chapters Love“

Nach einer 30-minütigen Umbaupause beginnt an diesem Abend die Choreographie von SHARON EYAL (geboren 1971 in Jerusalem).
Bei ihrem Namen fallen mir natürlich sofort die beiden anderen Stücke ein, die SHARON EYAL mit dem Staatsballett bisher einstudiert hat:
Das mittlerweile berühmt gewordene „Half Life“ (jede Vorstellung ausverkauft) von 2018 und „Strong“ von 2019.
Zusätzlich sah ich noch „The Brutal Journey oft he Heart“ im Oktober im Theater des Westens, welches mir ebenfalls sehr gut gefallen hat.
Die israelische Tänzerin und Choreographin ist für mich die Ausnahme von allen anderen Tanzschaffenden.
Fast alle zeitgenössischen Choreographen zeigen abstrakte Arbeiten, in die jeder für sich etwas hineininterpretieren kann.
Bei SHARON EYAL gibt es nichts zu interpretieren: Es ist der pure Tanz, die pure Musik, die pure Lust.
Stellt Euch vor Ihr seid in einem Club Eurer Wahl und tanzt nach der Musik, die Euch gefällt. Ihr bewegt Euren Körper, hört die Musik und lasst Euch von den Klängen treiben.
Genau das ist die Grundidee von SHARON EYALS Arbeit.
Aber hallo: Bitte denkt jetzt nicht, dass es auf der Bühne bei SHARON nur ein wildes Gehopse wie in einer Diskothek gibt. Ganz im Gegenteil!
Der Tanz ist bei SHARON EYAL genauestens durch-choreographiert.
Jede Fußbewegung (halbe Spitze!), jede Armbewegung, jede Handbewegung ist exakt festgelegt und 100-prozentig auf den Rhythmus der Musik abgestimmt. Dabei müssen die Tänzer fleißig mitzählen, denn die Techno-Musik des Komponisten ORI LICHTIK bietet hier wenig Anhaltspunkte. Es ist kein drei viertel Takt eines Walzers, sondern geht eine halbe Stunde lang rhythmisch fast unverändert weiter, nur ab und zu durch kleine Nuancen verändert. Wenn da einer aus dem Takt gerät fällt das gesamte Konstrukt zusammen.
Optisch gesehen gleichen sich die Stücke von SHARON EYAL in einem bestimmten Punkt: Es gibt eine größere Gruppe von Tänzern (bei „2 Chapters Love“ besteht sie aus 26), welche sich mehr oder weniger gleichförmig wie ein schlagendes Herz hin- und her bewegt.
Nach und nach kommen aus der Gruppe immer wieder einzelne Tänzerinnen und Tänzer hervor, die ausbrechen, ihr eignes Ding machen, dann aber wieder von der Gruppe eingefangen werden.
Ich weiß nicht, ob Ihr schon mal Hip-Hop Tanzveranstaltungen gesehen habt? Da gibt es die Gruppe der Tänzer, aus der immer ein Einzelner hervortritt und seine eigene Choreographie macht. Wenn er fertig ist, tritt er wieder in die Gruppe zurück und der nächste kommt an die Reihe.

Die Faszination einer Choreographie von Sharon Eyal ist nur sehr schwer in Worte zu fassen. Man muss sie selbst erleben, spüren und fühlen.
Wie eine Nacht im Club Berghain. Wie soll man die beschreiben?

Fazit: Hingehen und selbst erleben!

2 Chapters Love“
Choreographie: Sharon Eyal
Staatsballett Berlin
Uraufführung am 9. Dezember 2023

Bilderserie mit 14 Fotos aus „2 Chapters Love“ von SHARON EYAL:

Danielle Muir, „2 Chapters Love“, Sharon Eyal, ph: Holger Jacobs

English text

 

Premiere of Staatsballett Berlin – 2 Chapters Love

 

By Holger Jacobs


12/13/2023

Rating: 😉 😉 😉 😉 (four of five)

The Berlin State Ballet celebrates further success with two modern dance pieces

Sometimes it is very strange to see how classical ballet and modern dance contrast each other: a large fan base still prefers the classic story ballet of a “Swan Lake”, a “Giselle” or a “Sleeping Beauty”.
In contrast, there are lovers of modern dance, realized by the wonderful choreographers William Forsythe, Jiri Kylian, Heinz Spoerli and Sharon Eyal.
Even the critics‘ opinions are divided. We all still remember the dirty battle between the brilliant choreographer Marco Goecke and the critic Wiebke Hüster from the Frankfurter Allgemeine Zeitung. If you do some research into her reviews of modern dance pieces, you have to realize that Ms. Hüster always exalts classical music, but condemns modernity.
But a critic should actually be unbiased.
Israeli choreographer SHARON EYAL doesn’t have to worry about such negative opinions. Her works of contemporary dance are continually praised and she rushes from one highlight to the next.

“Stars like Moths”

But let’s look at the first piece of the evening, “Stars like Moths” by the Spanish choreographer SOL LÉON (born 1969).
The Cordoba-born dancer came to the Nederlands Dans Theater in 1987 and danced under, among others, the Czech choreographer Jiri Kylian. Just two years later, she began choreographing her own pieces together with the British dancer Paul Lightfood (no joke).
This collaboration has now resulted in 60 works.
In April of this year they both did show their choreographies “Silent Screen” from 2005 and “Schmetterling” from 2010 with great success with the Bavarian State Ballet (director Laurent Hilaire) in Munich.
Recently, SOL LÉON also began to choreograph her own dance pieces. The new director of the Berlin State Ballet, Christian Spuck, saw one of her works and invited her to Berlin.
On the Sunday before last, SOL LÉON explained in an introductory matinee how she works. As she said, with the dancers it is less about the technique but more about the expression and inner feeling of the performers. The personality of the dancer and how he/she interprets her instructions is very important to SOL LÉON.
““Stars like Moths” begins with the prima ballerina POLINA SEMIONOVA (dressed in a black blazer and black hot pants), who, while the audience is still taking their seats in the hall, slowly walks from the left side to directly in front of the first row of seats.

Polina Semionova, „Stars like Moths“, ph: Holger Jacobs

With a lot of inner peace, she puts on high-heeled pumps and looks ahead while she makes some grimace and some movement exercises.
Like an actress before her performance.
A dancer (MATTHEW KNIGHT), also dressed entirely in black, enters and gives her pieces of a watermelon (see our picture series).
In a second part, DANIELLE MUIR and her male partner MARTIN TEN KORTENAAR dance a pas de deux. However, it doesn’t seem to go very smoothly and somehow you get the impression that this scene arose from a rehearsal situation.
In the third scene it becomes understandable for everyone:
The curtain opens to reveal a room with a ballet barre and empty white walls.
Obviously the entire choreography is about training a dance ensemble.
The fact that one wall of the room hangs half diagonally from the ceiling and the other wall seems to disappear diagonally into the floor are ultimately just signs that not everything goes smoothly during rehearsals and that mistakes keep creeping in.
The final image again shows POLINA SEMIONOVA getting white ash on her head as a sign of criticism of herself.
Conclusion: The rehearsal situation is certainly an interesting idea. The title probably wants to suggest that dancers, like moths, try to get closer and closer to the light and thus to perfection, without ever achieving it.
Unfortunately, I wasn’t entirely convinced. Rehearsals certainly have something exciting about them, but I’m more interested in the end result.

“Stars like Moths”
Choreography: Sol Léon
Berlin State Ballet
Premiere on December 9, 2023

Picture series with 8 photos from “Stars like Moths” by SOL LÉON:

Polina Semionova, „Stars like Moths“, ph: Holger Jacobs

 

“2 Chapters Love”

After a 30-minute break for modification the stage, „2 Chapters Love“ by SHARON EYAL (born 1971 in Jerusalem) begins.
When I hear her name, I immediately think of the other two pieces that SHARON EYAL has realized with the Staatsballett Berlin:
The now famous “Half Life” (every performance sold out) from 2018 and “Strong” from 2019.
I also saw “The Brutal Journey of the Heart” in October at the Theater des Westens, which I also really liked.
For me, the Israeli dancer and choreographer is the exception to all other dance createurs.
Almost all contemporary choreographers show abstract works into which everyone can interpret something for themselves.
With SHARON EYAL there is nothing to interpret: it is pure dance, pure music, pure desire.
Imagine you are in a club of your choice and dancing to the music you like. You move your body, listen to the music and let yourself be carried away by the sounds.
That is exactly the basic idea of SHARON EYALS work.
But hello: Please don’t think that there is only wild hopping on stage at SHARON like in a discotheque. Quite the opposite!
The dance is meticulously choreographed by SHARON EYAL.
Every foot movement (half top!), every arm movement, every hand movement is precisely defined and 100 percent coordinated with the rhythm of the music.
The dancers have to count diligently, because the techno music of the composer ORI LICHTIK offers little clues.
It is not the three-quarter beat of a waltz, but goes on rhythmically almost unchanged for half an hour. If someone gets out of sync, the entire structure collapses.
Visually speaking, SHARON EYAL’s pieces are similar in a certain way: there is a larger group of dancers (in „2 Chapters Love“ there are 26) who move back and forth more or less uniformly like a beating heart.
Little by little, individual dancers emerge from the group who break out, do their own thing, but are then captured by the group again.
I don’t know if you’ve ever seen Hip-Hop dance events?
At Hip-Hop, there is a group of dancers, from which one individual always comes forward and does his/ her own choreography. When he/she has finished, he/ she steps back into the group and it’s the next person’s turn.
The fascination of a choreography by Sharon Eyal is very difficult to put into words. You have to experience it yourself, sense it and feel it.
Like a night at Club Berghain. How should you describe this?
Conclusion: Go and see it by yourself!

“2 Chapters Love”
Choreography: Sharon Eyal
Berlin State Ballet
Premiere on December 9, 2023

Picture series with 14 photos from “2 Chapters Love” by SHARON EYAL:

Danielle Muir, „2 Chapters Love“, Sharon Eyal, ph: Holger Jacobs

 

Author: Holger Jacobs

Founder & Editorial Director of kultur24.berlin ug.
Founder & Editorial Director of kultur24 TV on Youtube.
Former correspondent for fashion in Paris.
Photographer, writer and filmmaker.

Cookies help us deliver our services. By using our services, you agree to our use of cookies.