Alice Neel – Deichtorhallen Hamburg
Von Julia Engelbrecht-Schnür
18.10.2017
Ein später Triumph für die amerikanische Malerin Alice Neel
Es ist ein später Triumph, als das legendäre Whitney Museum 1974 für 85 ihrer Arbeiten eine ganze Etage herrichtet. Endlich. Alice Neel (*1900 †1984) hat es geschafft, ihre erste große Retrospektive. Der 74jährigen Malerin ist in einem Video von damals die Freude anzusehen, als sie durch die Museumsräume in Manhatten geht, Gratulationen entgegennimmt und ihre Arbeiten an den Wänden hängen sieht. Alice Neel hat den Olymp der amerikanischen Kunstwelt erklommen. Es ist die späte Anerkennung für eine der bedeutendsten amerikanischen Malerinnen des 20. Jahrhunderts.
In Deutschland blieb Alice Neel allerdings auch die darauffolgenden drei Jahrzehnte weitgehend unbekannt. Wieso, das kann seit der Ausstellungseröffnung am vergangenen Donnerstag in den Deichtorhallen in Hamburg keiner mehr so richtig begreifen. Am allerwenigsten kann Aurel Scheibler verstehen, warum es die großen deutschen Kunstinstitutionen bisher nicht für nötig hielten, Alice Neel der Öffentlichkeit näher zu bringen. Der Berliner Galerist, der sich seit Jahren für das Werk der großen Porträtmalerin Alice Neel einsetzt, schlendert erleichtert durch die Ausstellungräume am Rande der Hafencity. „Endlich bekommt sie auch in Deutschland die Aufmerksamkeit, die ihr gebührt. Sie ist eine fantastische Künstlerin und einige ihrer Arbeiten erzielen auf Auktionen bereits hohe sechsstellige Preise.“ So ist es wohl kein Zufall, dass seine Galerieräume am Schöneberger Ufer zeitgleich zu der Hamburger Schau mit einer Neel-Ausstellung aufwarten.
Auch Deichtorhallen-Chef Dirk Luckow spart nicht mit Superlativen. „Es ist sehr außergewöhnlich, eine Künstlerin dieses Kalibers in Regionen vorzustellen, wo sie völlig unbekannt ist. Diese Ausstellung ist ein Knüller und sie wird große Wellen schlagen.“
Und tatsächlich, wer sich den in Hamburg gezeigten vorwiegend großformatigen Porträts von Alice Neel nähert, verspürt schnell eine intuitive Nähe und Vertrautheit. Ihr Menschsein, ihre Verletzlichkeit und ihre Individualität springen dem Betrachter förmlich entgegen. Die stillenden Mütter, die Nachbarskinder, die Nackten, die Schwangeren und die Alten – sie alle blicken aus oft schwarz umrandeten Augen eigentümlich seelisch entblößt in eine Welt, die der alleinerziehenden Mutter, Feministin und Friedenskämpferin Alice Neel nicht immer gefiel.
Die gelernte Sekretärin, die 1900 in Philadelphia zur Welt kommt, heiratet einen kubanischen Künstler, der sich schon bald nach dem Tod der ersten gemeinsamen Tochter von ihr trennt und die zweite Tochter mit nach Kuba nimmt. Alice Neel zieht nach einem Nervenzusammenbruch und Suizidversuchen nach New York, lebt zunächst im vom Künstlern und Schriftstellern geprägten Stadtteil Greenwich Village und später im von Immigranten geprägten Bezirk Spanish Harlem, zieht zwei Söhne alleine auf, kämpft gegen soziale Ungerechtigkeit und für die Rechte der Frau. Aber vor allem malt sie. Sie malt, weil sie das Malen liebt – auch wenn sie viele Jahrzehnte kaum vom Verkauf ihrer Bilder leben kann. Sie malt ihre Nachbarn, Freunde, Kinder und Künstler, und immer malt sie auch den Zeitgeist, der in den Stoffen und Mustern der Kleider, in dem Makeup der Frauen und der Körperhaltung der Porträtierten meisterlich zum Ausdruck kommt.
Schon von Weiten erkennt man an der Künstlichkeit der Farben, dem gelblichblassen Teint, dem silbrigen Haar, dass es sich um ein Porträt Andy Warhols handeln muss. Steht man nah genug vor dem Bildnis des großen Pop-Art-Künstlers, erkennt man erst das wahre Ausmaß seiner psychischen Versehrtheit, seines von Eitelkeit und Geltungssucht genährten Schmerzes, der sich in dem Kontrast von polierten teuren Lederschuhen zu der von Narben gezeichneten Brust zeigt.
Warhol, der die Narben durch eine Operation nach einer Schussverletzung durch ein Attentat davontrug, soll über das Bild gesagt haben, es sei das beste je von einem Künstler geschaffene Porträt von ihm (in der Bilderserie weiter unten).
Die mehr als 100 Werke umfassende Wanderausstellung, die bereits in Helsinki, Den Haag und Arles zu sehen war und an der Elbe ihren Abschluss findet, wurde für die Deichtorhallen wegen der Größe des Hauses um 33 Zeichnungen ergänzt. Gerade diese präzisen Arbeiten sowie die Aquarelle enthüllen die originelle Vorgehensweise und den hohen Grad an Humor, den Alice Neels Schaffen prägte. Und Humor brauchte sie, um zu ertragen, dass sie erst im hohen Alter für ihr Werk die verdiente Anerkennung in ihrer Heimat erhielt – und nun posthum auch in Deutschland.
„Alice Neel – Painter of Modern Life“
Ausstellung bis zum 4. Januar 2018
Deichtorhallen Hamburg
Deichtorstraße 1 − 2
20095 Hamburg
Di – So 11 – 18 Uhr, Do 11 – 21 Uhr
It is a late triumph for Alice Neel, when the legendary Whitney Museum constructed a whole floor for 85 of their works in 1974. Finally. Alice Neel (*1900 † 1984) has managed to make her first major retrospective. In a video of the time, you can see her joy, as she walks through the museum rooms in Manhatten, congratulations and receives her work hanging on the walls. Alice Neel has climbed the Olympics of the American art world. It is the late recognition for one of the most important American painters of the 20th century.
In Germany, however, Alice Neel was largely unknown for the next three decades. Why? Since the exhibition opening last Thursday in the Deichtorhallen in Hamburg, no one can really understand. At the very least, gallery owner Aurel Scheibler can’t understand why the great German art institutions did not consider it necessary to bring Alice Neel closer to the public. The Berlin art dealer , who has been working for the great portrait painter Alice Neel for years, strolls through the exhibition halls on the edge of the Hafencity. „At last she gets the attention in Germany, too, that she deserves. She is a fantastic artist and some of her works already earn high prizes at auctions. „It is no coincidence that Aurel Scheibler’s gallery rooms on the Schöneberger Ufer showcased a Neel exhibition at the same time.
Even Deichtorhallen director Dirk Luckow specs in superlatives. „It is very extraordinary to present an artist of this caliber in regions where she is totally unknown. This exhibition is a blast and it will make a big wave. “
And indeed, whoever approaches the mostly large-format portraits of Alice Neel, which is shown in Hamburg, quickly feels an intuitive closeness and familiarity. Their humanity, their vulnerability and their individuality literally meet the viewer. The nursing mothers, the nephew’s children, the naked, the pregnant and the elderly – all of them look out of their often black-rimmed eyes in a world that did not always please the mother, feminist, and peace fighter Alice Neel.
The former secretary, born in Philadelphia in 1900, marries a Cuban artist, who soon after the death of her first daughter, separates from her and takes the second daughter to Cuba. Alice Neel, after a nervous breakdown and suicide attempts moved to New York, lives in the neighborhood of Greenwich Village, influenced by artists and writers, and later in the immigrant Spanish Harlem district. She takes two sons by herself, fighting social injustice and women’s rights. But above all she paints. She paints because she loves painting – even if she can hardly live from selling her paintings for many decades. She paints her neighbors, friends, children and artists, and she always paints the zeitgeist, which is expressed in the fabrics and patterns of the dresses, the makeup of the women and the bodywork of the portraits.
From the vastness of the world, one can see the artificiality of the colors, the yellowish-pale complexion, the silvery hair, that it must be a portrait of Andy Warhol. Standing close to the portrait of the great Pop Art artist, one first realizes the true extent of his psychological deprivation, his pain, which is nurtured by vanity and validity, and which is reflected in the contrast of polished, high-heeled leather heels to the sculpted breast.
Warhol, who scars through an operation after an assault, is said that it is the best portrait of him ever created by an artist.
The more than 100 works of the hiking exhibition, which has already been exhibited in Helsinki, The Hague and Arles and is concluded in Hamburg, has been supplemented by 33 drawings for the Deichtorhallen because of the size of the house. These precise works as well as the watercolors reveal the original approach and the high degree of humor that characterizes Alice Neel’s work. And she needed humor in order to bear the fact that she had earned very late the recognition for her work in her homeland – and now posthumously in Germany.
Alice Neel – Painter of Modern Life, Deichtorhallen Hamburg, until 4 January, Tue – Sun 11 am-6pm.
Author: Julia Engelbrecht-Schnür
Journalistin