Der neue PARSIFAL in Bayreuth in Augmented Reality
Von Dr. Stephan Scherer
Die Neuinszenierung von Wagners PARSIFAL bei den Bayreuther Festspielen ist auch ohne AR-Brille ein Erlebnis
Die Premiere liegt nun ein paar Tage zurück und diejenigen (wie ich), die die Neuinszenierung durch Jay Scheib sehen, sind natürlich durch diverse Presseberichte etwas „gespoilert“. Auch das eine oder andere Bühnenbild konnte man vor dem Opernbesuch schon in den Zeitungen sehen.
Der neue Parsifal ist überreich an Deutungen und Interpretationen.
In der Inszenierung von JAY SCHEIB sollte zum ersten Mal eine AR-Brille Einzug in eine Opernaufführung finden.
Der Clou:
Diese halb-durchlässigen Brillen erlauben sowohl die einen umgebende Landschaft (die reale Welt), als auch digital generierte Bilder, die einem zusätzlich eingespielt werden (virtuelle Welt), gleichzeitig wahrzunehmen.
Anfang 2024 will die Firma APPLE mit so einer Brille, genannt Vision Pro, für voraussichtlich 3500 Dollar auf den Markt kommen.
Bekanntlich gab es für das Publikum bei den „Parsifal“ Aufführungen nur etwas über 300 dieser Brillen (von 1900 möglichen Sitzplätzen).
Anfänglich dachte ich, ich hätte einen Platz mit Brille, deshalb ging ich auch brav zur Anprobe, die am Aufführungstag zwischen 10 und 14 Uhr vorgenommen wurde.
Bei Kurzsichtigen wird die Brille individuell auf die Fehlsichtigkeit eingestellt (sofern man seine Werte kennt), bei Weitsichtigkeit geht das nicht. Zudem bekommt man einen individuellen Nasenflügel.
Die so individualisierte Brille im Wert von gut 1000 Euro findet man dann vor der Aufführung an seinem Sitzplatz vor.
Eine weitere technische Einweisung erfolgt eine Stunde vor Spielbeginn für ca. 15 Minuten.
Seltsamerweise stellte sich erst bei dieser Probe heraus, dass mein Platz ohne Brille war.
Obwohl ich es am Ende nicht selbst erlebt habe, glaube ich, dass die AR Brille alleine wegen des individuellen Aufwands nur einen Nischenplatz in der Theatergeschichte belegen wird. Zudem berichteten einige Zuschauer, dass das Bühnengeschehen und die vielen Bilder, die man nur mit Brille sehen konnte, sie ziemlich abgelenkt hätten.
Und bei der „Parsifal“ Inszenierung von Jay Scheib muss der Zuschauer in seinem Kopf schon sehr viele „reale“ Eindrücke verarbeiten, weshalb ich am Ende gar nicht traurig war, dass ich keinen AR Brillenplatz hatte.
Denn zu viel visuelle Ablenkung kann auch den Musikgenuss stören.
Wie ich zudem von anderen Zuschauern hörte, seien die einfliegenden dreidimensionalen Herzchen, Blutstropfen, Figuren, etc. auch ein bisschen banal gewesen.
Kritik
Die Musik unter dem Dirigat von PABLO HERAS-CASODO klang grandios.
Klar, weich und etwas gedämpft, Bayreuth eben (Deckel über dem Orchestergraben).
Dennoch: Der Dirigent wurde nicht nur kräftigst gefeiert, sondern auch ausgebuht.
Niemand mit dem ich später sprach, verstand warum.
Hat das in der Regel sehr kenntnisreiche Bayreuther Publikum ihn mit JAY SCHEIB verwechselt und sich per Buh-Rufe über die Inszenierung (dazu später) beschwert?
Ich weiß es nicht, ich jedenfalls fand das Dirigat großartig.
Gesanglich beeindruckt hat mich in erster Linie GEORG ZEPPENFELD als Gurnemanz. Es gibt zurzeit keinen Besseren.
Grandios auch ANDREAS SCHAGER, der den Parsifal sang. Was für eine Anpassungsfähigkeit der Stimmkraft!
Am Vortag sah und hörte ich ANDREAS SCHAGER in der extrem fordernden Hauptrolle in „Siegried“ und am Tag nach dem „Parsifal“ in der gleichen Rolle in „Götterdämmerung“.
Als Siegfried war ANDREAS SCHAGER jugendlich, laut und ungestüm, als Parsifal weise und gemäßigt, hundertprozentig passend.
Der Star des Abends aber war ELINA GARANCA als Kundry.
Ich habe noch nie eine so gute, auch wortverständliche Kundry gehört – und gesehen.
Sie sang nicht nur überragend, sondern spielte auch die Vielschichtigkeit der Kundry zwischen Erotik, Verdammnis, Erlösungssuche, Verführung und vielem mehr perfekt.
Die Inszenierung fand ich dem Bühnenweihfestspiel absolut angemessen, obgleich es keine Inszenierung für die Ewigkeit sein wird (als Mannheimer mit einem Parsifal, der mittlerweile seit 1957 läuft, darf ich das sagen). Dafür ist die Inszenierung zu zeitkritisch.
Aber um einen Ewigkeitsanspruch geht es am Ende ja auch nicht.
Im dritten Aufzug ist die Bühne in eine entsetzlich lebensunwürdige Welt umgebaut.
Kundry erwacht neben Plastikmüll, der See in der Mitte ist mit giftgrünem Wasser gefüllt, ein Schaufelradbagger, der als Relikt aus „STAR WARS“ stammen könnte, füllt die rechte Bühnenhälfte.
Dabei gab es wunderschöne Inszenierungsideen:
Bei den Gralsszenen erhob sich ein riesiger Lichterschein würdevoll über das Geschehen.
Der halbrunde Hintergrund bestand oft aus Nahaufnahmen der Künstler, die auf der Bühne mit einer Handkamera gefilmt wurden.
Das kennt zwar der eine oder andere schon vom Ring unter FRANK CASTORF, wurde aber brilliant umgesetzt.
Höhepunkt der Inszenierung war jedenfalls für mich Klingsors Zaubergarten.
Er selbst lebt in einer rosafleischfarbenen Höhle am rechten Bühnenrand. Links davon befindet sich ein in erotisch verlockender Manier konstruierter üppiger Zaubergarten.
Die Blumenmädchen waren herrlich lasziv, Klingsor (JORDAN SHANAHAN) ein mit Blumen tätowierter Hipster im rosa Anzug, sehr cool.
Insgesamt wurde der Gegensatz der Gralshüter (männlich, mit Gral, aber keusch) zu Klingsors Welt (weiblich, mit Speer, aber entmannt) großartig sinnfällig.
Der Gral bestand aus einem blauen Stein aus Kobalt.
Ein Mahnmal der seltenen Erden? Der die Landschaft zerstörende Bagger zur Förderung dieser Notwendigkeiten unseres immer mehr elektrifizierten Lebens stand ja auch gleich daneben….
Übrigens: Kundry trat mehrmals doppelt auf, d. h. eine weitere Kundry verstärkte die Bewegungen und Gedanken der Kundry. Eine schöne Idee.
Und wie endet alles?
Der Gral wird am Ende nicht enthüllt, sondern zerschlagen.
Kundry stirbt nicht nach ihrer Taufe im dritten Aufzug, sondern steht an der Seite Parsifals.
Eine weitere „Kundry“ steht derweil neben Gurnemanz, der schon im Vorspiel seine erotische Fantasien auf Kundry projizierte.
Vielleicht wurde Wagner hier zu Ende gedacht. Er hat ja oft lange an den Enden seiner Opern gearbeitet, vom Tannhäuser, vor allem von der Götterdämmerung gibt es zahlreiche Versionen des Schlussaktes, bis Wagner sich auf eine festlegte.
Ich fand dieses Ende sehr schön – die Liebe, die stärker ist als die Gralspflicht.
Epilog
Am Ende des ersten Aufzugs wurde entgegen aller Gewohnheiten kräftig applaudiert.
Das Publikum emanzipiert sich wohl von der Idee, der „Parsifal“ sei ein Passionsfestspiel.
Das ist er meiner Meinung nach nicht.
Er ist eher der Versuch etwas Neues zu schaffen. Vielleicht ist es die Idee, eine sinnlich wahrnehmbare Liebe an die Stelle der Religion zu setzen.
Schon Nitzsche hat die feine Ironie nicht verstanden, mit der ihm Wagner das Libretto übersandte und es mit den Worten unterschieb: „Richard Wagner, Oberkirchenrat“.
Deshalb gibt es auch keinen Grund in andächtigem Schweigen ohne Applaus kirchenähnlich aus dem ersten Aufzug in die Pause zu gehen.
Fazit: Liebe darf bejubelt werden!
„Parsifal“ von Richard Wagner
Bayreuther Festspiele 2023
Premiere war am 27.07.2023
Musikalische Leitung: Pablo Heras-Casado, Regie: Jay Scheib, Bühne: Mimi Lien, Kostüme: Meentje Nielsen
Parsifal: Andreas Schager, Kundry: Elina Garanca 27.7, 30.7, 12.8./ Ekatarina Gubanova 15.8., 19.8. 23.8. 27.8., Gurnemanz: Georg Zeppenfeld, Klingsor: Jordan Shanahan, Amfortas: Derek Welton, Titurel: Tobias Kehrer
Als Klingsors Zaubermädchen u.a. die 1986 in Nizza geborene Camille Schnoor
Unsere Bilderserie mit 13 Fotos von der „Parsifal“ Inszenierung:
Author: Holger Jacobs
Founder & Editorial Director of kultur24.berlin ug.
Founder & Editorial Director of kultur24 TV on Youtube.
Former correspondent for fashion in Paris.
Photographer, writer and filmmaker.