Franz Kafkas „Amerika“ im Gorki Theater
Von Marty Sennewald
16.01.2023
We´re all living in America
Stell dir vor, du ziehst aus – wobei, das ist schon nicht ganz richtig, besser:
Du wirst zum Ausziehen gezwungen, denn du hast dich von deiner Haushälterin verführen lassen und die erwartet nun ein Kind von dir (was Anfang des 20. Jahrhunderts als lebensvernichtender Eklat galt) – also:
Du packst deinen Koffer, steigst auf ein Schiff nach Amerika, und im gelobten Land der freien Welt geht alles gehörig schief und du gehst vor die Hunde.
Das liegt aber natürlich nicht an dir, du bist anständig und wohlerzogen und in deinen Augen liegt dieses idiotische Funkeln, das DOSTOJEWSKI so feinsinnig beschrieben hatte. Kurzum:
Du bist KARL ROßMANN und der Protagonist von FRANZ KAFKAS Amerika-Roman.
Ein Fragment allerdings.
KAFKA hatte zwischen 1911 und 1914 daran gearbeitet und es unabgeschlossen zurückgelassen.
Um Amerika steht es heute nicht besser als damals.
Der Sehnsuchtsort hat Patina angelegt. Wo einstmals freie Lüfte die Freiheitsgöttin umwehten, steht dicke Luft.
Skandaljagten und Demokratieverdruss, das Land der (un)begrenzten Möglichkeiten wartet in jüngster Vergangenheit vornehmlich mit einer virtuosen Varianz an Negativschlagzeilen auf.
Es hat sich ausgeträumt.
Dass Amerika auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht frei von Sorge und Kritik war, davon erzählt FRANZ KAFKAS Roman und die Reise KARL ROßMANNS.
Sebastian Baumgarten inszeniert brav und textnah
Am Versuch, KAFKAS Stil adäquat auf die Bühne zu bringen, sind mehr Leute gescheitert, als dass sie es nicht sind.
Das liegt einerseits an der kafkaesken Welt (wie schön, dass KAFKA ein eigenes Wort dafür bekommen hat), die bürokratisch wundersam und realitätsübersteigend eine kaum fassbare Vorstellung möglicher Welten erzeugt.
Und das liegt andererseits – und das ist der wohl gewichtigere Punkt – an der Komik von KAFKAS Texten.
Die Biografie berichtet, und an dieser Stelle gebe ich das Wort an THOMAS MANN, der die Sache besser beschreibt als ich es könnte, „daß, als KAFKA einigen Freunden vorlas, (…), die Zuhörer Tränen gelacht hätten und der Autor selbst so habe Lachen müssen, daß er augenblicksweise am Lesen gehindert gewesen sei.“
Augenblicksweise am Lesen, bzw. am Zuhören, gehindert werden, das ist eine Qualität, die ich mir auch für die Inszenierung von Regisseur SEBASTIAN BAUMGARTEN gewünscht hätte.
Wurde sie mir zuteil? Leider nein.
Obwohl sich die Inszenierung in sichtlicher Text-Nähe bewegt.
Allerdings ist die Gangart rabiater und düsterer, als es die Beschreibungen des Romans vermuten lassen.
KARL ROSSMANN, dessen Verkörperung über das Stück herumgereicht wird, mal von YANINA CERÓN, mal von EMRE AKSIZOGLU et cetera gespielt, leidet also auf der Bühne und ich habe Mitleid mit ihm und möchte ihn trösten.
Aber der Sprung ins Komische, die Verdrehung des bösen Schicksals in eine von Ironie durchsprengten Sprache?
Das gab es leider nur vereinzelt bis gar nicht nicht zu sehen Schrägstrich zu hören.
Und mit vereinzelt meine ich die durchaus lichten Momente, die TILL WONKA als HERR POLLUNDER dem Stück zuträgt.
Auf der Bühne waren die großen Symbole des amerikanischen Traumlandes eingerichtet:
Ein menschengroßer Limonadenbecher, ein menschengroßer Nike-Air-Force-One, eine übermenschengroße Felge.
Ein paar Sterne hängen an der Decke.
Und Zigaretten.
Zwei große Kippen liegen gleich vorne an der Bühne und in den Mundwinkeln der Schauspielenden qualmt und dampft es stets und ständig.
Das Stück hat Tempo, zum genüsslichen Rauchen bleibt kaum Zeit, aber das Stück tut sich schwer damit, einen (um nicht mit Anglizismen zu geizen) drive zu entwickeln.
Dabei waren die Ambitionen groß.
Dem Begleitheft hatte JOSEPH VOGL (Berlins vielleicht berühmtester KAFKA-Forscher und Kapitalismus-Kritiker), einige Zeilen über das Zaudern beigesteuert.
KAFKAS Literatur als eine große Geste des Zauderns, des unentschiedenen und unentschlossenen Dazwischen-seins, in dessen Grenzbereich das eigentümlich Kafkaeske zuhause ist.
Das liest sich – wie alles von VOGL – brillant, einleuchtend und ist messerscharf beobachtet.
Nur ist in der Textbearbeitung von diesen geisteswissenschaftlichen Höhenflügen leider nichts gelandet.
„Amerika“ von Franz Kafka
Permiere am 14.01.2023
Maxim Gorki Theater
Regie: Sebastian Baumgarten
Bühne: Barbara Steiner
Kostüme: Christina Schmitt
Mit: Emre Aksizoglu, Yanina Ceron, Tim Freudensprung, Kenda Hmeidan, Kinan Hmeidan, Falilou Seck, Marcel Urlaub, Till Wonka
Bilderserie mit 19 Fotos der „Amerika“- Produktion:
Author: Marty Sennewald
Marty Sennewald promoviert zurzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin im Fach „vergleichende Literaturwissenschaft“.
Daneben ist er als freiberuflicher Schriftsteller und Musiker tätig, lebt und arbeitet in Berlin.