Schlafe, mein Prinzchen
Uraufführung am Berliner Ensemble
Wertung: 🙂 🙂 🙂 🙂 (Vier von fünf)
Von Holger Jacobs
21.06.2015. Eine besondere Premiere gestern Abend im Theater am Schiffbauerdamm: der bekannte Pianist, Komponist, Regisseur und Musikarrangeur Franz Wittenbrink vollbrachte eine Mammutaufgabe, indem er das schwierige Thema sexueller Missbrauch auf die Bühne eines Theaters brachte. Mit Erfolg. Großer Applaus und Bravo-Rufe am Schluss.
Hintergrund
Immer wieder beschäftigt uns das Thema sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen. Über viele Jahre hinweg gerieten mehr und mehr (überwiegend katholische) Geistliche in den Focus verschiedener Untersuchungen, viele mussten ihre Posten räumen, nachdem sich die Verdachtsmomente erhärteten. Seitdem führt die katholische Kirche eigene Untersuchungen durch, was bisher dabei herauskam, bleibt aber der Öffentlichkeit verschlossen. Doch eines ist klar: Über viele Jahre und Jahrzehnte wurden junge Ministranten und andere jugendliche Schutzbefohlene in kirchlichen Einrichtungen misshandelt. Doch dabei blieb es nicht. Auch an privaten und öffentlichen Schulen wurden Missbrauchsfälle bekannt. Der größte dieser Fälle ist wohl das Internat Odenwaldschule. Sie war 1910 als sehr fortschrittliche Schule mit neuen pädagogischen Konzepten gegründet worden, in der die Schüler die Lehrer mit „Du“ anredeten und eine allgemeine antiautoritäre Erziehung herrschte, wofür sie weit über unsere Landesgrenzen anerkannt wurde. Umso größer war die Überraschung, als im Jahr 1998 Berichte bekannt wurden, das in den 70er und 80er Jahren Schüler von Lehrkörpern regelmäßig missbraucht wurden. Bis heute haben sich 6 Lehrer zu ihren Tasten bekannt, u.a. der damalige Schulleiter Gerold Becker, der allerdings 2010 verstarb. Nachweislich sind 132 Schüler Opfer sexueller Übergriffe geworden, Mädchen und Jungen. Unter dieser Oberfläche vermutet man eine noch weit größere Zahl.
Handlung / Kritik
Franz Wittenbrink, der Initiator und Autor von „Schlafe, mein Prinzchen“ war selbst Schüler eines Internates, den Regensburger Domspatzen. Aufgewachsen in einem erzkonservativen katholischen Elternhaus versuchte er sich in seiner Studentenzeit von dieser Last zu befreien und engagierte sich in der Politik. Nach verschiedenen Gelegenheitsjobs wurde er mit Mitte 30 Keyborder in einer Band. Und seitdem hat ihn die Musik nicht mehr losgelassen. Bald kam er auch mit dem Theater in Berührung, wofür er ein neues Genre erfand: Das literarische Musiktheater, oder, wie es auch manchmal formuliert wird, den „Wittenbrink-Abend“. Dabei werden zu einem bestimmten Thema Texte und Lieder arrangiert. Ähnlich dem Duo Berthold Brecht – Kurt Weill. Diese Form des Theaters praktizierte er bereits auf fast allen großen deutschsprachigen Bühnen, von der Wiener Burg bis zum Hamburger Schauspielhaus.
Für das Berliner Ensemble entwickelte er einen Abend zu einem besonders schwierigen Thema, den sexuellen Missbrauch an Jugendlichen. Dabei zeigt er verschiedene Situationen an zwei Schulen: Einmal in einer katholischen Musikschule und einmal in einem antiautoritären, modernen Internat, ähnlich der Odenwaldschule. Immer wird ein Spielakt von 2 oder mehreren Personen unterbrochen von Liedern, die manchmal die Missbrauchssituation im Hintergrund begleiten, manchmal aber auch als alleinige Handlung den Abend bestimmen. Die grausamen bis widerlichen Szenen zwischen Lehrern und Schülern arrangiert er geschickt in einer Form, dass sie von jedem anzusehen sind, ohne sich peinlich abwenden zu müssen. Trotzdem verfehlen sie ihre Wirkung nicht. Die überwiegend jungen Darsteller spielen diese Situationen wunderbar überzeugend und realistisch. Aber auch Grausamkeiten von Schülern untereinander werden nicht ausgespart. Denn so etwas gibt es leider ebenfalls. Die Musik stammt entweder aus dem kirchlichen Repertoire, oder aus der Musik der Flower-Power-Bewegung der 60er und 70er Jahre. Ein eindrucksvoller Abend, der, auch Dank der tollen Schauspieler, in Erinnerung bleibt.
Regie und musikalische Leitung: Franz Wittenbrink, Bühne: Alfred Peter, Kostüme: Wicke Naujoks, Dramaturgie: Steffen Sünkel, Anika Bardos, Licht: Steffen Heinke.
Mit den Schauspielern: (Schüler: ) Annemarie Brüntjen, Nadine Kiesewalter, Johanna Griebel, Corinna Pohlmann, Maike Schmidt, Laura Tratnik, Lennart Lemster, Raphael Dwinger, (Lehrer: )Andreas Lechner, Veit Schubert und Thomas Wittmann
Nächste Vorstellungen: Am 22. und 29. Juni 2015
Author: Holger Jacobs
Founder & Editorial Director of kultur24.berlin ug.
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Former correspondent for fashion in Paris.
Photographer, writer and filmmaker.