Unsere Bücher Tipps im Juli 2022

Bücher Tipps im Juli 2022 © kultur24.berlin

Unsere Bücher Tipps im Juli 2022

 

Von Jörg Braunsdorf

05.07.2022

Ein Roman aus Palästina, zwei aus Italien und einen über die Rettung der Welt – Buchhändler Jörg Braunsdorf hat uns für die Sommerferien spannende Lektüre zusammengestellt.
Hier seine Empfehlungen:

 

„Eine Nebensache“ von Adana Shibli © Berenberg Verlag

„Eine Nebensache“, Adana Shibli, Berenberg Verlag

„Man reißt ein Grasbüschel aus und glaubt, man sei das Kraut für immer los, aber nach einem Vierteljahrhundert wäschst Gras derselben Art an derselben Stelle wieder nach.“ (Zitat Buchrückseite) Auf 117 Seiten erzählt die palästinensische Autorin zwei Geschichten in denen die strukturelle und persönliche Tragödie zweier Völker, strukturelle und (un)menschliche Geschlechter- und Gewaltverhältnisse, Verrohung durch Kriege, Bürgerkriege, soldatische Verrohung und zivile- und persönliche Sinn- und Klärungssuche im Mittelpunkt stehen. Die Taterzählung ist schwer auszuhalten, sie spielt ausschließlich 1949 in der Wüste Negev. 25 Jahre später versucht eine junge Frau aus Ramallah den Vorgang zu klären. Eine kunstvoll komprimierte zeitgeschichtliche und auf wenige Personen konzentrierte Geschichte von Tätern und Opfern des dauernden Konflikts im Nahen Osten. Und ein Schrei nach Gerechtigkeit und Frieden.

 

„Das wundersame Leben des Liberio Bonfiglio“ von Remo Rapino © Kein & Aber Verlag

„Das wundersame Leben des Liborio Bonfiglio“, Remo Rapino, Kein & Aber Verlag

„Die Glühwürmchen sind besser als die See-, Luft- und Landkriege, und ich wollte sie fangen, um das Licht in der Hand zu halten, …“ (S.40). Dieser Roman ist eine komplette italienische Geschichte vom Sommer 1926 bis Winter 2010, eine Geschichte die gleichzeitig ein Alltagsmärchen ist. Das Leben eines liebenswerten Einzelgängers, ein Monolog über das Leben des Liborio Bonfiglio. Rapino erzählt in einer einfachen, wahren Umgangssprache, voller Wort- und Alltagswitz, aber auch all der Tragik, die einer Kindheit in Süditalien, erster Verliebtheit, Auf- und Ausbrüchen in neue Lebens- und Arbeitsphasen, persönlichen und politischen Ereignissen eigen sind. „… Die Fabriken sind ja auch irgendwie Irrenanstalten …“ faßt Bonfiglio seine Erfahrungen im norditalienischen Arbeitsexil zusammen, er, der nach einem Gewaltausbruch jahrelang in der Psychatrie lebte. Zu einer Zeit, in der Franco Basaglia die große Psychatriereform von Triest auslöste. Aber das ist nur eine der vielen wundersamen wahren und fiktiven Geschichten in diesem herrlichen Roman. Es ist so, mit allen Widersprüchen: Das Land Italien hat eine Seele, dieser Roman erzählt von ihr!

 

„Die Asche des Lebens“ von Erri de Luca © Ullstein Verlag

„Die Asche des Lebens“, Erri de Luca, Ullstein Verlag

„Auf dem Meer gibt es keine Tavernen.“ (S. 16) Autor ist der neapolitanische Schriftsteller Erri de Luca von dem in deutscher Sprache 9 Romane vorliegen, die ich alle gelesen habe. De Luca schloss sich Ende der 60er Jahre der außerparlamentarischen Bewegung Lotta Continua an, sagte sich später von militanten Aktionen los, übersetzte Teile der Bibel aus dem hebräischen, die er schlecht übersetzt fand und engagierte sich bis in die jüngsten Jahre pazifistisch-politisch, was ihn wieder in Konflikte mit dem Staat und der Gerichtsbarkeit brachte. In diesem Roman erinnert sich EINER an Besuche einiger Jugendfreunde, einem ehemaligen Militanten, der der Gewalt abgeschworen hat, einem katholischen Missionar und dessen Konflikte zwischen Kolonialismus und Mission, und einem anarchischen Lebenskünstler. Wie in seinem philosophischen Roman „Den Himmel finden“, verknüpft de Luca in persönlichen Geschichten die Suche nach dem Sinn des Lebens. Die Erde ist das Meer, die Lebensgeschichten sind die ozeanischen Bewegungen, so versöhnt de Luca den vielschichtigen Klang der Geschichten und Abenteuer. Endgültige Ruhe kann es da nicht geben, weder im räumlichen noch im seelischen Sinn. Das ist unterhaltsam und klug! 

 

„Selfie ohne Selbst“ von Marc Degens © Berenberg Verlag

„Selfie ohne Selbst“, Marc Degens, Berenberg Verlag

„Man kann die Wirklichkeit nicht ohne Geschichten einfangen. Die Fiktion ist wahrer als das vermeintliche Protokoll.“ (S. 54) Degens berichtet von der Rutschky-Schule, im Berenberg Verlag liegen drei Tagebücher von Rutschky vor, der 3. Band erschien posthum 2019. Kurz gesagt, der autofiktionale Bericht liest sich amüsant und flüssig, spart nicht mit Ironie sich selbst gegenüber, macht neugierig auf Tagebücher literarischer Personen im Allgemeinen und insbesondere auf die von Michael Rutschky, der offensichtlich austeilt, verletzt, versöhnt und so ein Zerrbild der literarischen Kulturszene in Deutschland, insbesondere in Berlin, geschaffen hat. Zunächst ist nicht wichtig, ob in Marc Degens Text der reale oder der fiktionale Inhalt überwiegt. Wer jedoch im Literaturbetrieb lebt oder nah dran ist möchte es dann doch wissen. Und so recherchiert auch Degens nach den Textstellen in den Tagebüchern, die ihn betreffen könnten, wird fündig, mit wechselnden Gefühlen. Als ich mich, einige Seiten vor dem Ende des Buches, auf ein Ausklingen des Textes einlassen wollte, schafft Degens dann noch einmal einen Husarenritt auf 4 Textseiten. Eine letzte Provokation, ein Ende des autofiktionalen Spiels, oder nur eine „Sensation des Gewöhnlichen“ (S. 40)? Am besten LESEN!

 

„Total Reset“ von Kerstin Doerenbruch © Noel Verlag

„Total Reset“, Kerstin Doerenbruch, Noel Verlag

Ein Geoengineering-Thriller. GEOENGINEERING (Der Sammelbegriff Geo-Engineering oder Climate Engineering, bezeichnet vorsätzliche und großräumige Eingriffe mit technischen Mitteln in geochemische oder biogeochemische Kreisläufe der Erde. Als Ziele derartiger Eingriffe werden hauptsächlich das Abbremsen der anthropogenen globalen Erwärmung, etwa durch den Abbau der CO2-Konzentration in der Atmosphäre, und die Verringerung der Versauerung der Meere genannt, Anm.d.Red.).
Schon mal gehört? Wahrscheinlich. Schon mal sich vertieft und damit befasst? Wahrscheinlich nicht. Die Autorin weiß wovon sie schreibt. Lange in der Automobilbranche arbeitend, beschäftigte sie sich mit Klimafragen, insbesondere den Chancen und Risiken von Geoengineering-Methoden. Der Roman spielt im Jahr 2036. Eine amerikanische Wissenschaftlerin und ein deutscher BND-Agent, sie lernen sich auf einem internationalen Fachkongress kennen, wollen die Spirale des Geoengineerings aufhalten. Nach der Lektüre wissen wir mehr über die Hybris der Kreatur Mensch, mehr über den gefährdeten Planeten Erde, der Kipppunktproblematik und über die Ideenwelt politisch und wirtschaftlicher (sogenannter) Global-Player, die die globale Temperatur mittels unterschiedlicher Absenkungsstrategien in den Griff zu bekommen hoffen. Klingt dystopisch und nach Science Fiktion? Ist real! Und die Frage nach der Verantwortungsethik stellt sich stärker denn je. Einigen Passagen im ersten Teil des Romans hätte ein stärkeres Lektorat gutgetan. Die Dynamik der Handlung und des Themas machen das aber wieder wett.

Jörg Braunsdorf
Tucholsky Buchhandlung
Tucholskystr. 47
10117 Berlin
Tel. 030/27577663
kurt@buchhandlung-tucholsky.de
https://www.buchhandlung-tucholsky.de/

 

 

Author: Jörg Braunsdorf

Jörg Braunsdorf ist Inhaber der 2010 gegründeten Tucholsky-Buchhandlung in der Tucholskystraße 47 in Berlin-Mitte.
Auszeichnungen: 4-maliger Gewinner des Deutschen Buchhandlungspreises, zuletzt für das Jahr 2020

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