A Year without Summer – in der Volksbühne Berlin
Von Holger Jacobs
09.06.2025
Wertung: 🙂 🙂 (zwei von fünf)
Bringt Provokation die Theaterwelt voran?
Natürlich hilft Provokation, eine Inszenierung in die Medien zu bringen und die Theaterwelt aufmerksam werden zu lassen.
Dem ersten, dem das in den 60er Jahren auf brillante Weise gelang war PETER HANDKE mit seinem Stück „Publikumsbeschimpfung“, uraufgeführt 1966 in Frankfurt durch den Regisseur CLAUS PEYMANN.
Dabei wurde das Publikum zwar nicht die ganze Zeit beschimpft (erst im letzten Teil), aber es gab eine direkt Ansprache der Schauspieler an das vor ihnen sitzende Publikum.
Im Zuge der sexuellen Revolution Ende der 60er/ Anfang der 70er Jahre kam mehr sexuelle Freiheit und damit auch mehr nackte Haut.
Für die Flower und Power Bewegung dieser Zeit war Nacktheit sowohl eine Form der Freiheit, als auch Provokation gegen das Spießertum.
Nacktheit auf der Bühne
Auch im 21. Jahrhundert gilt Nacktheit auf der Bühne immer noch als Mittel um Aufmerksamkeit zu erregen.
2004 galt die Inszenierung von „Die Entführung aus dem Serail“ des spanischen Regisseurs CALIXTO BIEITO an der Komischen Oper als Skandalstück, weil das Harem als Bordell mit viel nackter Haut gezeigt wurde.
Im Jahre 2015 inszenierte THOMAS OSTERMEIER an der Schaubühne Berlin „Richard III.“ (kultur24 berichtete), mit einem gewissen LARS EIDINGER als Richard III, den er nackt von der Decke hängen ließ (der damals noch wenig bekannte Ernst-Busch-Schüler LARS EIDINGER wurde dann über Nacht berühmt).
Und die Inszenierung „Love hurts in Tinder Times“ (kultur24 berichtete), ebenfalls an der Schaubühne, zeigte 2017 Tatort-Kommissar MARK WASCHKE in seiner ganzen nackten Schönheit (hier in der Probe noch mit Unterhose).
Ich könnte noch viele weitere Beispiele anführen, so z.B. JONAS DASSLER in „Dantons Tod“ (kultur24 berichtete), wieder an der Schaubühne.
Es bleibt aber die Frage, ob Nacktheit bei diesen Inszenierungen wirklich zum Verständnis des Stücks beigetragen hat, oder ob sie in Wirklichkeit nur mehr Aufmerksamkeit erregen sollte?
Florentina Holzinger
Die 39 jährige Wienerin FLORENTINA HOLZINGER kommt eigentlich vom Tanz.
Sie studierte Choreografie an der Hochschule der Künste in Amsterdam.
Wobei ihre Abschlussarbeit gleich mit dem „Prix Jardin d’Europe“ belohnt wurde.
Schnell entwickelte sie einen Stil, der sowohl Gewalt wie auch nackte Körper beinhaltete – der klassische Sex and Crime Plot.
Akrobatik, Splatter und nackte Ärsche sei „die umfassende Emanzipation des weiblichen Körpers als Ausdrucksmittel“, wie der Kollege Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung mal formulierte. Weibliches Empowerment also.
Aha!
Einer der größten Fürsprecherin von FLORENTINA HOLZINGER war die frühere Intendantin der Berliner Sophiensäle, FRANZISKA WERNER.
Sie zeigte bereits 2017 HOLZINGERS Arbeit „Recovery“, danach „Apollon“ und zuletzt 2020 „Tanz“.
Letzteres sah ich in der Probe, welche ich aber nach kurzer Zeit aber wieder verließ.
Ich fand’s einfach zu eklig.
Die Mischung von Blut, Exkrementen und nackter Körper entspricht nicht meinem Gefühl von Ästhetik.
„A Year without Summer“
Auf der Homepage der Volksbühne steht gleich zu Anfang folgender Warnhinweis:
Triggerwarnung:
Wir empfehlen ein Mindestalter von 18 Jahren für den Besuch der Aufführung.
Bitte beachten Sie:
Die Vorstellung „A Year without Summer“ beinhaltet
• Blut und Körperflüssigkeiten
• Selbstverletzende Handlungen
• Explizite Darstellung sexueller Handlungen
• Stroboskop-Licht
Somit war ich also vorgewarnt und bereitete mich letzten Sonntag auf das Schlimmste vor.
Doch ich hielt die 2 Stunden durch.
Der Titel der Performance bezieht sich auf ein tatsächliches Ereignis, welches sich im Jahre 1816 ereignet hat:
Der ein Jahr zuvor auf der indonesischen Insel Sumbawa ausgebrochene Vulkan MOUNT TAMBORA hatte so viel Staub und Asche in die Atmosphäre geschleudert, dass auf mehrere Jahre die Sonne auf der ganzen Erdkugel verdunkelt wurde, besonders in Europa und Nordamerika.
Dass bedeutete, dass die durchschnittliche Temperatur im Sommer um 3 Grad sankt.
An manchen Orten fiel im August sogar Schnee.
Große Hungersnöte brachen aus.
Die britische Schriftstellerin MARY SHELLEY verbrachte den Sommer 1816 mit Freunden am Genfer See und besuchte dort auch den britischen Dichter LORD BYRON.
Das schlechte Wetter zwang die dort Anwesenden oft im Hause zu bleiben und so beschlossen sie, sich zur Unterhaltung gegenseitig Schauergeschichten zu erzählen.
Dabei ist nachweislich MARY SHELLEYS Roman „Frankenstein – The modern Prometheus“ entstanden und LORD BYRONS Leibarzt JOHN POLIDORI verfasste die Erzählung „The Vampyre“, Jahrzehnte vor BRAM STOKERS „“Dracula“.
LORD BYRON selbst verfasste das Gedicht „Die Finsternis.
Orgie
Der Theaterabend in der Volksbühne fängt mit einer in Nebel gehüllten Bühne an, auf der sich immer mehr Gestalten versammeln, während auf Schrifttafeln die Geschichte des Sommers 1816 erzählt wird.
Nach und nach ziehen sich die Protagonisten aus – alles Frauen verschiedenen Alters und Hautfarbe, selbst eine Kleinwüchsige ist dabei – und beginnen sich zu berühren und zu küssen – bis eine Art Orgie entsteht, bei jede mal mit jeder „rummacht“.
Lesbische Liebe
Manche koitale Bewegungen erinnern in „A Year without Summer“ aber eher an heterosexuelle Handlungen.
Vielleicht hatten die meisten der Darsteller bisher noch keinerlei Erfahrung mit lesbischer Liebe.
Wer das explizit mal im Film erleben will – realistischer geht es wohl kaum – der sollte sich den Film „Blau ist eine warme Farbe“ („La vie d‘ Adèle“) des franz. Regisseurs Abdellatif Kechiche ansehen.
Mit der damals noch fast unbekannten LÉA SEYDOUX („James Bond – Spectre“).
Nach ca. 15 Minuten ist die Orgie vorbei.
Eine Handlung, die sich speziell auf diesen Sommer 1816 bezieht, gibt es dabei aber nicht.
Einen Frankenstein auch nicht (der kommt erst am Ende zum Applaus auf die Bühne).
HOLZINGER dachte sich wohl, dass sich die Personen damals die Zeit im kalten Sommer 1816 hauptsächlich mit Orgien vertrieben hätten.
Oder sie suchte einfach nach einem Vorwand eine Orgie mit Frauen auf die Bühne zu bringen.
„l‘ Origine du Monde“
In der zweiten Szene wird eine riesige Puppe aufgeblasen, deren Torso so daliegt, wie das Model auf dem Bild „l‘ Origine du Monde“ von Gustave Courbet (hängt heute im Musée d‘ Orsay in Paris).
Aus der Vagina entsteigen mehrere Personen.
Auf einer Bahre wird eine Frau (FLORENTINA HOLZINGER selbst) hereingebracht, deren Beinwunde aufgeschnitten und der Wunde ein winziges, gläsernes Embryo entnommen wird (per Video in Großaufnahme auf der Leinwand).
Musical
Plötzlich kommt Sound aus den Lautsprechern und Musikerinnen (natürlich alle nackt) spielen schwungvolle Lieder, zu denen die Protagonisten auf der Bühne singen und tanzen, wie in einem Musical.
Ärztekittel werden übergestreift und eine Art Schönheitsklinik entsteht.
Einer Schauspielerin werden die Augenbrauen durchstochen (in Großaufnahme) und ein dauergeiler SIGMUND FREUD erscheint, der sich die Nase mit Koks vollstopft und masturbiert.
Robotics
Szenenwechsel:
Im schwarzen Bühnenraum steht ein Kasten mit grünen Gläsern, in dem Hunderoboter ein Tänzchen vollführen. Na ja, was man bei einem Roboter so als Tanz bezeichnen kann.
Vier alte, nackte Frauen gehen zwischen den Robotern umher. Dabei soll angeblich die Frage des Menschen nach seinem Wunsch zur Unsterblichkeit aufgeworfen werden.
Habe ich leider nicht erkennen können.
Exkremente
Das Schlussbild zeigt wieder eine Klinik.
Dieses Mal allerdings keine Schönheitsklinik, sondern eher eine Palliativstation, in der alten Frauen wegen ihrer Inkontinenz riesige Windeln angezogen werden.
Doch trotz dieser Vorsichtsmaßnahme fängt das große Scheißen an, so dass aus allen Windeln braune Kacke strömt, die am Ende den ganzen Boden bedeckt.
Oben auf einer Empore zieht derweil eine nackte Eiskunstläuferin ihre Kreise.
Am Ende von gut zwei Stunden hat das Schicksal mit mir ein Einsehen:
Plötzlich fängt es auf der Bühne an zu schneiden und der ganze braune Dreck verschwindet unter einer weißen Flockenschicht.
Nacheinander gehen die Schauspieler, wie geteert und gefedert, nach vorne und verbeugen sich.
Derweil zieht die Eiskunstläufern einsam ihre Kreise…
Fazit: Gewöhnungsbedürftig. Für die einen faszinierend, für die anderen abstoßend.
Die Mehrheit des Publikums war unter 30 Jahre alt, davon ca. 70 % Frauen.
„A Year without Summer“
Regie, Choreographie & Performance: Florentina Holzinger
Bühne: Nikola Knezevic, Kostüme: Christiane Hilmer
Musik: Born in Flamez, Stefan Schneider
Intimacy Coaching: Jasko Fide (Pornodarstellerin und Pornoregisseurin)
Co-Produktion mit Tanzquartier Wien, Kampnagel Hamburg, Dansenhus Kopenhagen, Theaterfestival Krakau, Maska Ljubliana, Rising Melbourne
English
A Year without Summer at the Volksbühne Berlin
By Holger Jacobs
Rating: 🙂 🙂 (two of five)
Does provocation advance the theater world?
Of course, provocation helps bring a production into the media and attract the attention of the theater world.
But how do I achieve provocation?
The first person to achieve this brilliantly in the 1960s was writer PETER HANDKE with his play „Audience Insult,“ premiered in Frankfurt in 1966 by director Claus Peymann.
Although the audience wasn’t insulted the entire time (only in the last part), the actors did address the audience sitting in front of them directly.
With the sexual revolution in the late 1960s and early 1970s, there was more sexual freedom and, with it, more bare skin.
Nudity was both a form of freedom and a provocation against Bourgeoisie.
Nudity on stage
Even in the new millennium, nudity is still considered a means of attracting attention.
In 2004, the production of „Die Entführung aus dem Serial“ (Wolfgang Amadeus Mozart) directed by the Spanish CALIXTO BIEITO at the Komische Oper Berlin was considered a scandal because it depicted the harem as a brothel with a lot of bare skin.
In 2015, THOMAS OSTERMEIER directed „Richard III“ at the Schaubühne Berlin (kultur24 reported), featuring a certain LARS EIDINGER, whom he had suspended naked from the ceiling (LARS EIDINGER, a student of Ernst Busch Actors School, subsequently became famous overnight).
And the 2017 production of „Love Hurts in Tinder Times“ (kultur24 reported) showed „Tatort“ television detective MARK WASCHKE in all his naked beauty at the Schaubühne Berlin (in the rehearsal he wore still underwear, not any more at the premiere)
I could cite many more examples for nudity on stage, such as actor JONAS DASSLER as Danton in „Danton’s death“ (kultur24 reported), again at the Schaubühne.
But the question remains whether nudity in these productions truly contributed to the understanding of the play, or whether it was actually just meant to attract more attention?
Florentina Holzinger
Florentina Holzinger, 39, originally from Vienna, actually has a dance background. She studied choreography at the Amsterdam University of the Arts. Her final project was immediately awarded the Prix Jardin d’Europe.
She quickly developed a style that encompassed both violence and nudity – the classic sex and crime plot.
Acrobatics, splatter, and bare asses represent „the comprehensive emancipation of the female body as a means of expression,“ as her colleague Egbert Tholl once put it in the Süddeutsche Zeitung.
Aha!
One of Florentina Holzinger’s biggest supporter was the former artistic director of the Berlin Sophiensäle, Franziska Werner.
She already showed Holzinger’s work „Recovery“ in 2017, followed by „Apollon,“ and most recently „Dance“ in 2020.
I saw the piece in rehearsal, but left shortly after the beginning.
I just found it too disgusting.
The mix of blood, excrement, and naked bodies didn’t suit my aesthetic sense.
„A Year without Summer“
The Volksbühne’s website contains the following warning right at the beginning:
Trigger warning
We recommend a minimum age of 18 to attend this performance.
Please note: The performance „A Year without Summer“ contains:
• Blood and bodily fluids
• Self-harm
• Explicit depictions of sexual acts
• Strobe lights
So I was forewarned and prepared for the worst last Sunday.
But I made it through the two hours.
The title of the performance refers to an actual event that happened in 1816:
The MOUNT TAMBORA volcano, which had erupted a year earlier on the Indonesian island of Sumbawa, had thrown so much dust and ashes into the atmosphere that the sun was darkened across the globe for several years, particularly in Europe and North America.
This meant that the average summer temperature dropped by about 3 degrees Celsius.
In some places, it even snowed in August.
Great famines broke out.
The British writer MARY SHELLEY spent the summer of 1816 with friends on Lake Geneva and visited the British poet LORD BYRON.
The bad weather often forced those present to stay indoors, so they decided to tell each other horror stories for entertainment.
MARY SHELLEY’s novel „Frankenstein – The Modern Prometheus“ was demonstrably written in this way, and LORD BYRON’s personal physician, JOHN POLIDORI, wrote the story „The Vampyre,“ decades before BRAM STOKER wrote „Dracula.“
LORD BYRON himself wrote the poem „The Darkness.“
Orgy
The theater evening at the Volksbühne begins with a stage shrouded in fog, on which more and more figures gather, while the story of the summer of 1816 is told on panels.
Little by little, the protagonists – all women of different ages and skin colors, even a dwarf – undress and begin to touch and kiss each other, until a kind of orgy develops, with everyone „making it“ with everyone else.
Some coital movements, however, are more reminiscent of heterosexual acts.
Perhaps most of the actors had no previous experience with lesbian love.
Lesbianism
If you want to experience real lesbian love explicitly in a movie – it couldn’t be more realistic – you should watch the film „Blue is the Warmest Color“ („La vie d’Adèle“) by French director Abdellatif Kechiche.
Starring LÉA SEYDOUX („James Bond – Spectre“), who was almost unknown at the time.
After about 15 minutes, the orgy is over.
However, there is no plot specifically related to the summer of 1816.
Nor is there a Frankenstein (who only appears on stage at the end to applause).
HOLZINGER probably thought that the characters back then would have passed the time in the cold summer of 1816 mainly with orgies.
Or she was simply looking for an excuse to stage an orgy with women.
„L’Origine du Monde“
In the second scene, a giant doll is inflated, its torso lying like the model in Gustave Courbet’s painting „L’Origine du Monde“ (now hanging in the Musée d’Orsay in Paris).
Several people emerge from its vagina.
A woman (Florentina Holzinger herself) is brought in on a stretcher, whose leg wound is cut open, and a tiny, glass embryo is removed from the wound (shown in close-up on the screen via video).
Musical
Suddenly, sound emerges from the speakers, and several musicians (all naked, of course) play lively songs, to which the protagonists on stage sing and dance like in a musical.
Doctors‘ coats are put on, creating a kind of beauty clinic.
An actress has her eyebrows pierced (in close-up), and a perpetually horny Sigmund Freud appears, stuffing his nose with coke and masturbating.
Robotics
Scene change:
In the black stage space, there’s a box with green glasses in which dog robots are performing a little dance.
Well, what you could call a dance for a robot…
Four old, naked women walk among the robots.
This is supposedly meant to raise the question of humanity’s desire for immortality.
Unfortunately, I couldn’t see that in it.
Incontinence
The final image shows another clinic.
This time, however, not a beauty clinic, but rather a palliative care unit where elderly women are dressed in giant pampers because of their incontinence.
But despite this precaution, the shitting begins, with brown poop pouring out of all the diapers and eventually covering the entire floor.
Meanwhile, up on a gallery, a naked figure skater is circling.
At the end of a good two hours, fate takes pity on me:
Suddenly, it began to snow, and all the brown shit disappeared under a layer of white flakes.
Then, one after another, stepped forward for the applause. Covered like in tar and feathers,
While the figure skaters is still circle lonely…
Conclusion: Not for everybody. Fascinating for some, repulsive for others.
The majority of the audience was under 30 years old, about 70% of whom were women.
„A Year Without Summer“
Staging, choreography & performance: Florentina Holzinger
Stage Design: Nikola Knezevic
Costumes: Christiane Hilmer
Music: Born in Flamez, Stefan Schneider
Intimacy Coaching: Jasko Fide (porn actress and porn director)
Co-production with Tanzquartier Vienna, Kampnagel Hamburg, Dansenhus Copenhagen, Theaterfestival Krakow, Maska Ljubljana, Rising Melbourne
Author: Holger Jacobs
Founder & Editorial Director of kultur24.berlin ug.
Founder & Editorial Director of kultur24 TV on Youtube.
Former correspondent for fashion in Paris.
Photographer, writer and videographer.