AUFERSTEHUNG von Lew Tolstoi am Deutschen Theater

AUFERSTEHUNG - Tolstoi - St. Petersburg - Foto: Andreas Wilcke

AUFERSTEHUNG von Lew Tolstoi am Deutschen Theater

 

Von Marty Sennewald

06.04.2022

Die um vier Monate verschobene Premiere von Tolstois Auferstehung hat die Inszenierung von Armin Petras in eine vielleicht ungewollte Aktualität gerückt.

Ich bin spät dran.
Die Premiere habe ich versäumt und bin also pünktlich zur zweiten Aufführung am 3. April auf meinem Weg zum Deutschen Theater.
Über die Stunden des Nachmittags hatte ich den Roman aus dem Regal gezogen und die ersten 50 Seiten abermals gelesen. Jetzt biege ich in die Albrechtstraße. In nicht einmal einhundert Meter Entfernung zum Deutschen Theater liegt die Ukrainische Botschaft. An ihrer Fassade lehnen blau-gelbe Plakate, auf dem Trottoir wurden zahlreiche Blumensträuße niedergelegt: Osterglocken, Sonnenhüte, Forsythien.

Das Theater ist an diesem Sonntag nur spärlich besucht. Die hinteren Reihen auf dem Parkett sind leer geblieben. Um sieben Uhr, noch fällt der letzte Abendschein der Sonne durch die Glasveranda in der Bar, geht es los.

Tolstois Auferstehung – ein Roman auf Umwegen

Im November 1890 schreibt Tolstoi in sein Tagebuch: „Genauso schlecht geschrieben wie sonst. Bisweilen glaube ich, ich habe die Kraft und Fähigkeit eingebüßt, meine Gedanken so auszudrücken, wie ich es früher vermochte, und daher bin ich mit meinem jetzigen schwachen Stil unzufrieden. Und dass ich aufhören muss. Nicht schlimm. Tut mir nicht leid. Und es ist gut so, wie es ist. (…) Doch ein Zweifel beunruhigt mich: Vielleicht soll ich schreiben. Und daher versuche ich und werde auch weiter versuchen, auf diese Weise zu dienen, kann ich doch auf keine andere Weise gleich nützlich sein.“

Nach dem plötzlichen Welterfolg seiner beiden großen Romane Krieg und Frieden (1869) und Anna Karenina (1877) war es ruhiger um Lew Tolstoi geworden. Er war in eine Schaffenskrise geraten. Zu banal schien ihm sein Frühwerk, zu wenig fand er darin die Wirklichkeit einer nötigen Kritik ausgesetzt. Und überhaupt hegte Tolstoi Zweifel an der Form der Fiktion.

1893 schreibt er in sein Tagebuch: „Die Form des Romans ist keineswegs ewig, sondern schon im Schwinden. Wie beschämend, die Unwahrheit zu schreiben, zu behaupten, es sei gewesen, was nicht gewesen ist.“ Die achtziger Jahre sind geprägt von den moralischen und politischen Essays Tolstois, etwa Was sollen wir denn tun? (1886) oder Über das Leben (1887).

1899 wird der Roman Auferstehung dennoch in beinahe sämtlichen Ländern Europas erscheinen. Der Anstoß dazu kam allerdings von außen: Es war das Leid der Duchoborzen, einer von der russisch-orthodoxen Kirche abweichenden christlichen Glaubensgemeinschaft, die in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts erheblichen Diskriminierungs- und Vertreibungsmaßnahmen ausgesetzt waren. Tolstoi wollte mit der Veröffentlichung des Romans sowohl Geld für eine Aussiedlung der Duchoborzen akquirieren, als auch seine schon in den Essays zu vernehmende Kritik am kapitalistischen Geist und der russischen Zarengesellschaft kenntlich machen.

Der Stoff des Romans

Fürst Nechljudow ist ein russischer Dandy. Er trägt teure Krawatten, hat viel Land geerbt, ist unbekümmert reich und lebt in den Tag hinein. In jungen Jahren hatte er einst die junge Jekatarina Maslowa verführt und sie, wie viele nach ihr, vergessen.
Als Geschworener zu Gericht erkennt er in einer angeklagten Prostituierten das Mädchen von damals wieder.
Und er erkennt: Er allein trägt die Schuld am Schicksal dieser jungen Frau, die nach jener Nacht der Verführung schwanger wurde, schließlich ihres Hauses vertrieben und einen Niedergang ins Prostitutionsmilieu erleben musste.
Sie wird schuldig gesprochen und nach Sibirien in die Verbannung geschickt. Jetzt überdenkt Fürst Nechljudow seine Taten, sein Leben und seine Überzeugungen. Und er begibt sich auf eine Reise nach Sibirien, auf eine Reise der Läuterung und wirft in seinem Versuch, diesmal das richtige zu tun und Katjenka Maslowa zu retten, die Frage auf:
Kann ein Mensch inmitten einer verkommenen Gesellschaft überhaupt noch moralisch gut handeln?
Ist Läuterung in einer gottverlassenen Welt überhaupt noch möglich?

Die Inszenierung

Die erste Hälfte der Inszenierung ist lebendig und verspielt. Sie erinnert an ein klassisches Theater, in dem das Publikum noch durch schauspielerische Leistung und raffinierte Dramaturgie zu berühren versucht wird: Und es gelingt.

Im Fokus steht der Gerichtsprozess, der gepaart wird mit zahlreichen phantasievoll inszenierten Rückblenden:
Auf die Nacht der Verführung oder das frühe Leben des Fürsten Nechljudow, mal mit Schattenspielen, mal mit überlebensgroßen Pappmasken versinnbildlicht. So leicht und unterhaltsam – und doch dem Roman gerecht werdend –  vergingen selten zwei Stunden Theater.
Die Besetzung durchweg erstklassig. Im Zentrum stehen Anja Schneider als Jekaterina Maslowa und Felix Goeser als Dimitri Iwanowitsch Nechljudow.
Die übrigen springen geschickt durch zahlreiche Rollen, verschwinden kurz hinter der Bühne und tauchen schon im nächsten Moment in neuem Kostüm wieder auf. Grandiose Leistung. Auch und gerade von Seiten der Musik. Sven Kaiser begleitet und improvisiert am Klavier und reagiert äußerst stimmungsvoll und passend auf das Geschehen auf der Bühne. Ich erwische mich, wie ich ihn über Minuten beobachte und in Variationen von Tschaikowsky schwelge.

Die Pause mit Polizei im Deutschen Theater

Bei einer Spielzeit von über drei Stunden ist eine Pause natürlich Pflicht. Diese allerdings hielt eine Überraschung bereit. Etliche Polizisten standen im Foyer und liefen durch die Gänge. Es wurde getuschelt. Ein Lastwagen habe sich vor die Ukrainische Botschaft gestellt, der Fahrer sei nicht aufzufinden, es sei alles in Alarmbereitschaft versetzt worden.
Man suche nun auch hier im Deutschen Theater nach Hinweisen.
Am Ende gab es glücklicherweise Entwarnung. Es hatte sich wohl um ein Missverständnis gehalten.

Die zweite Hälfte

Was die Inszenierung an Lorbeeren für die erste Hälfte einheimsen konnte, das verspielte sie beinahe rücksichtslos in der zweiten. Gleich zu Beginn das erwartbar Unerwartete: Lautes Getöse, grelles Licht. Die Nebelmaschine läuft auf Hochtouren und wie so oft: Die Bühne dreht sich unentwegt. Natürlich werden nun auch die Hüllen fallen gelassen und nackte Körper mit rotem Kunstblut eingeseift. Den stringenten Handlungsfaden aus der ersten Hälfte schafft die Inszenierung von Armin Petras allerdings nicht wieder aufzunehmen. Die eigentliche Läuterung bleibt nebulös und effekthascherisch überladen.

Fürst Nechljudow gibt sein Land an die Bauern ab. Doch das Happy End mit Katjenka Maslowa bleibt aus. Sie wird auf Drängen des Fürsten zwar begnadigt, doch verweigert die angebotene Heirat mit ihm. Der Fürst will nun selbst Bauer werden. Katjenka fällt bald einer Krankheit zum Opfer. So endet die Geschichte und auch die Inszenierung. Trotz einer durchaus gelungenen Inszenierung schleppt der Beifall ein wenig. Es mag an den nur spärlich besetzten hinteren Reihen liegen.

Fazit: Wenn der Abend auch den Zauber der Premiere entbehrte: die Auferstehung nach Tolstoi im Deutschen Theater war zweifelsohne ein kulturelles Highlight an diesem Sonntag, absolut empfehlenswert (nicht nur für Tolstoi-Fans) und dürfte in seiner gelungenen Umsetzung nicht nur dem sonntäglichen Tatort mühelos den Rang abgelaufen haben.

„Auferstehung“ von Lew N. Tolstoi
in einer Bearbeitung von Armin Petras
Deutsches Theater Berlin
Premiere war am 26. März 2022
Regie: Armin Petras, Bühne: Peta Schickart, Kostüme: Annette Riedel, Musik: Sven Kaiser
Mit: Felix Goeser (Fürst Nechljudow), Anja Schneider (Jekatarina Maslowa), Natali Seelig, Katrin Wichmann, Kotbong Yang, Regine Zimmermann, Paul Grill, Andreas Leupold

Nächste Aufführungen am 7., 9., 20. und 25. April 2022

Bilderserie mit 12 Fotos der Theaterproduktion „Auferstehung“:

„AUFERSTEHUNG“, Tolstoi, Deutsches Theater, Foto: Andreas Wilcke

 

Author: Marty Sennewald

Marty Sennewald promoviert zurzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin im Fach „vergleichende Literaturwissenschaft“. 

Daneben ist er als freiberuflicher Schriftsteller und Musiker tätig, lebt und arbeitet in Berlin.

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