BERLINALE 2022 – Die Liebe als Schwerpunkt im Wettbewerb
Von Holger Jacobs
14.2.2022
Das älteste Thema der Menschheit als zentrales Motiv auf der diesjährigen Berlinale
Carlo Chatrian, künstlerischer Leiter der Berlinale, sagte bei seiner Eröffnungsrede zu den 72. Internationalen Filmfestspielen von Berlin, dass sie dieses Mal sehr viele Einreichungen von Filmen bekamen, die die Corona-Pandemie und den Lockdown als Thema hatten. Doch dieses Thema wollten sie nicht auf dem Filmfestival haben. Es wäre zu offensichtlich gewesen.
Stattdessen sollte sich die Liebe wie ein roter Faden durch fast alle Filme des Wettbewerbs ziehen.
Sei es die Obsession eines schwulen Filmregisseurs für seinen jungen Darsteller, wie bei „Peter von Kant“, sei es die wieder neu entflammte Liebe zu einem Ex-Partner, wie bei „Armour et Acharnement“, sei es die Liebe auf einem entlegenen Hof in den Alpen, wie bei „Drii Winter“, sei es die Liebe einer Mutter zu ihrem in Guantanamo gefangenen Sohn, wie bei „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ – immer steht das starke Gefühl zu einem anderen Menschen im Vordergrund.
So auch bei den folgenden drei Filmen im Wettbewerb:
„AIEOU – DAS SCHNELLE ALPHABET DER LIEBE“ von Nicolette Krebitz mit Sophie Rois, Milan Herms und Udo Kier.
Die ehemals bekannte Schauspielerin Anna (Sophie Rois) wird vor dem Restaurant PARIS BAR in Berlin von einem Dieb überfallen, der ihre Handtasche klaut. Durch die Tätigkeit als Sprachtherapeutin wird ihr der junge Adrian (Milan Herms) vorgestellt, der genau dieser Dieb ist.
Trotzdem nimmt Anna ohne ein Wort über die Vergangenheit zu sagen, den Job an. Über die Zeit der Therapiestunden hinweg lernen sich die beiden näher kennen und verlieben sich ineinander.
Das Problem: er ist siebzehn und sie ist 65. Trotzdem scheint es zu funktionieren. Am Ende reisen sie zusammen nach Frankreich ans Meer. Die Zukunft bleibt ungewiss.
Nach so vielen Filmen mit älteren Männern und ihren jungen Geliebten war es sicher mal Zeit einen Film in umgekehrter Richtung zu machen. Das gelingt Nicolette Krebitz („Wild“) auch sehr einfühlfühlsam. Und Udo Kier nach so langer Zeit mal wieder zu sehen (er spielt Annas Vermieter) macht richtig Spaß.
Allerdings zieht sich der Film ab der Mitte ziemlich in die Länge, vor allem, wenn der Zuschauer weiß, wohin die Handlung führt. Und der junge Adrian, gespielt von Milan Herms, sieht doch deutlich älter als siebzehn aus. Aber egal. Nicht schlecht gemacht, doch es fehlt der nötige Schwung.
„CALL JANE“ von Phyllis Nagy mit Elizabeth Banks, Sigourney Weaver und Kate Mara.
Dieser wirklich gut gemachte und teilweise auch spannende Film handelt von dem Recht auf Abtreibung (Schwangerschaft – ein Resultat der Liebe!), um dass Frauen bis heute in der ganzen Welt kämpfen.
Der Film erzählt die Geschichte von Joy (Elizabeth Banks), die in den 60er Jahren in den USA eine zu dieser Zeit völlig normale Ehefrau darstellt:
Hausfrau und Mutter.
Keine eigenen Bedürfnisse, keine eigenen Interessen und nur fixiert auf den Ehemann, die gemeinsame Tochter und den Haushalt.
Das ändert sich, als bei ihr während ihrer zweiten Schwangerschaft ein angeborener Herzfehler entdeckt wird, der ihr bei einer weiter verlaufenden Schwangerschaft nur eine 50-prozentige Überlebenschance geben würde.
Die damaligen sehr strikten Gesetzte zu Schwangerschaftsabbrüchen in den 60er Jahren in den USA verbieten einen regulären Abbruch in einem Krankenhaus, also wendet sie sich in ihrer Verzweiflung an „Jane“ (Sigourney Weaver), die anonym eine Organisation betreibt, bei der schwangeren Frauen in einer Notsituation geholfen wird.
Nach ihrem Abbruch, den sie bei ihrem Mann als Fehlgeburt deklariert, fängt sie an selbst in dieser Organisation mitzuarbeiten bis eines Tages im Jahre 1973 der Oberste Gerichtshof in den USA einen Schwangerschaftsabbruch nicht mehr als Verbrechen einstuft.
Ein großer Sieg für die Frauen.
Toll gespielt. Vor allem die beiden Hauptdarstellerinnen Elizabeth Banks uns Sigourney Weaver („Alien“) sind phänomenal. Und es bleibt spannend bis zur letzten Minute.
„LES PASSAGERS DE LA NUIT“ von Mikhael Hers mit Charlotte Gainsbourg, Noé Abita.
Für mich bisher der beste Film der diesjährigen Berlinale.
Er spielt in den 80er Jahren in Paris mit mehrjährigen Intervallen.
Es beginnt mit der Wahlnacht von Francois Mitterand zum neuen Präsidenten von Frankreich am 10. Mai 1981.
Doch der kleinen Familie um Elisabeth (Charlotte Gainsbourg) ist nicht zum Feiern. Ihr Mann hat sie zusammen mit ihren halb erwachsenen Kindern Matthias und Judith allein gelassen und lebt schon seit geraumer Zeit mit seiner neuen Freundin in einer anderen Wohnung.
Elisabeth klagt ihr Leid ihrem zu Besuch gekommenen Vater. Sie weiß nicht wie es weitergehen soll, da sie wegen ihrer Kinder bereits vor 15 Jahren ihre berufliche Karriere aufgegeben hatte und jetzt plötzlich ihr eigenes Geld verdienen muss. Nach ein paar vergeblichen Bewerbungen meldet sie sich spontan bei ihrem Lieblings-Radiosender, der mit seiner Nachtsendung „Les Passagers de la Nuit“ viele Hörer findet, die, wie Elisabeth, nachts nicht schlafen können. Besonders beliebt ist die Beantwortung von Hörer-Fragen, die sich die ganze Nacht bei der Moderatorin Vanda (Emmanuelle Béart) per Telefon melden (das Internet gab es ja noch nicht).
Elisabeth kann nun zukünftig beim Sender als Telefonistin für die Hörer-Anrufe arbeiten. Fast zeitgleich nimmt sie die junge Obdachlose, Talulah (Noé Abita), bei sich auf, die sie bei einer Radiosendung kennengelernt hat.
Der Film folgt keinem genauen Handlungsstrang. Seine Dramaturgie baut sich sich vielmehr in vielen kleinen Szenen auf, die das Leben dieser Familie zusammen mit der jungen Talulah bestimmt.
Regisseur Mikhael Hers zeigt sich dabei als Meister kleiner Gesten und Situationen, um die Gefühlswelt der Protagonisten darzustellen. Einzelne Schicksale, besonders der von Elisabeth, werden immer wieder gemischt mit dem Zusammengehörigkeitsgefühl dieser kleinen Gemeinschaft, welches in einem gemeinsamen Tanz zur Musik von Joe Dassin gipfelt.
Sehr berührend und sehr eindrucksvoll. Hier wird die Liebe nicht als einen zentralen Punkt der Geschichte gezeigt, sondern als Lebensgefühl mehrerer Personen. Der richtige Film für einen Valentinstag.
Mit dem Schlusssatz: Es bleibt, was wir füreinander waren.
Happy Valentins Day!
English text
BERLINALE 2022 – Love as the focus in the competition
By Holger Jacobs
Mankind’s oldest topic as the central motif at this year’s Berlinale
Carlo Chatrian, artistic director of the Berlinale, said in his opening speech at the 72nd Berlin International Film Festival that this time they received a lot of submissions from movies they had the corona pandemic and the lockdown as their theme.
But the Berlinale directors didn’t want to have this topic at the film festival.
It would have been too obvious.
Instead, love should run like a red thread through almost all movies in the competition.
For example the obsession of a gay film director for his young actor, as in „Peter von Kant“, or the renewed love for an ex-partner, as in „Armour et Acharnement“, or the love on a remote farm in the Alps, as in „Drii Winter“, or the love of a mother for her son who is imprisoned in Guantanamo, as in „Rabiye Kurnaz vs. George W. Bush“ – the strong feeling for another person is always in the foreground.
This is also the case with the following three movies in competition:
„AIEOU – THE FAST ALPHABET OF LOVE“ by Nicolette Krebitz with Sophie Rois, Milan Herms and Udo Kier.
The story: The formerly well-known actress Anna (Sophie Rois) is attacked by a thief in front of the PARIS BAR restaurant in Berlin, who steals her handbag. Working as a speech therapist now, Anna is introduced to the young Adrian (Milan Herms), who is exactly that thief.
Nevertheless, without saying a word about the past, Anna accepts the job. Over the course of the therapy sessions, the two get to know each other better and fall in love.
The problem: he’s seventeen and she’s 65.
Still, it seems to be working. In the end, they travel together to the sea in France. The future remains uncertain.
After so many films with older men and their young girls, it was definitely time to do a film in reverse.
Nicolette Krebitz („Wild“) manages to do this very sensitively. And seeing actor Udo Kier (Melancholia“ by Lars von Trier) again after such a long time (he plays Anna’s landlord) is really fun.
However, the movie get’s a little bit long from the middle, especially when the viewer knows where the plot is going. And the young Adrian, played by Milan Herms, looks a lot older than seventeen. But whatever.
Not bad, but I miss the rhythm.
Phyllis Nagy’s „CALL JANE“ starring Elizabeth Banks, Sigourney Weaver and Kate Mara.
This really well made and at times exciting film is about the right to abortion (pregnancy – a result of love!) that women are fighting for all over the world to this day.
The film tells the story of Joy (Elizabeth Banks), who portrays a completely normal wife at the time in the USA in the 1960s:
housewife and mother.
No own needs, no own interests and only fixated on the husband, their daughter and the household.
That changes when she is diagnosed with a congenital heart defect during her second pregnancy, which would only give her a 50 percent chance of survival if the pregnancy continued. The then very strict abortion laws in the USA in the 1960s forbade a regular abortion in a hospital. In her desperation she turns to „Jane“ (Sigourney Weaver), who anonymously runs an organization where pregnant women are treated in a emergency situation. After Joy’s abortion, which she declared to her husband as a miscarriage, she began to work in this organization herself until one day in 1973, the US Supreme Court no longer classified an abortion as a crime.
A great victory for the women. Played wonderfully. Especially the two leading actresses Elizabeth Banks and Sigourney Weaver („Alien“) are phenomenal. Dramatic until the last minute.
„LES PASSAGERS DE LA NUIT“ by Mikhael Hers with Charlotte Gainsbourg, Noé Abita.
For me it’s the best film at this year’s Berlinale so far.
The movie plays in Paris in the 1980s at intervals of several years.
It begins with Francois Mitterand’s election night as the new President of France on May 10, 1981.
But the small family around Elisabeth (Charlotte Gainsbourg) is not in the mood for celebration.
Her husband left her alone with their half-grown children Matthias and Judith and has been living with his new girlfriend in another apartment for some time.
Elisabeth complains of her suffering to her father, who has come to visit. She doesn’t know what to do next, because she gave up her professional career 15 years ago because of her children and now she suddenly has to earn her own money.
After a few unsuccessful applications, she spontaneously writes a letter to her favorite radio station, which, with its nightly show „Les Passagers de la Nuit“, found many listeners who, like Elisabeth, could not sleep at night.
Particularly popular is the answering of questions from the listeners who call the moderator Vanda (Emmanuelle Béart) all night long (the internet didn’t exist yet).
Elisabeth can now work at the radio station as a telephone operator for listener calls.
Almost at the same time, she takes in to her apartment the young homeless woman, Talulah (Noé Abita), whom she met on a radio show.
The film does not follow a precise plot line.
Rather, his dramaturgy is built up in many small scenes that determine the life of this family together with the young Talulah.
Director Mikhael Hers shows himself to be a master of small gestures and situations in order to portray the emotional world of the protagonists. Individual fates, especially that of Elisabeth, are mixed again and again with the feeling of togetherness of this small community, which culminates in a joint dance to the music of Joe Dassin.
Very touching and very impressive. Here love is not shown as a central point in the story, but as an attitude towards life of several people.
With the final sentence: What we were to each other remains.
Happy Valentine’s Day!
Author: Holger Jacobs
Founder & Editorial Director of kultur24.berlin ug.
Founder & Editorial Director of kultur24 TV on Youtube.
Former correspondent for fashion in Paris.
Photographer, writer and filmmaker.