Die Bücher Tipps im Juli 2020
Von Jörg Braunsdorf
21.07.2020
Die neuen Buchempfehlungen von Buchhändler Jörg Braunsdorf (Buchhandlung Tucholsky in Berlin-Mitte) erzählen von Vater und Sohn, Bruder und Schwester, Tier und Mensch und einer außergewöhnlichen Wohngemeinschaft.
Teresa Kirchengast, Schwarze Schafe, edition atelier
Ein Sommerroman ein Debütroman der Autorin, unbeschwert geschrieben.
Ella lebt mit Ihren beiden schwarzen Schafen Bertha und Suttner zufrieden in einem Wohnwagen im Garten des Familienhauses. Im Haus möchte sie aus einigen Gründen nicht wohnen.
Plötzlich erscheint die resolute, die sehr resolute ältere Dame Elisabeth, erklärt ihr, dass sie ab sofort in dem Haus wohnen werde und übrigens gehöre das Haus ihr.
Ella ist es egal, sie ist eher gespannt ob dieser Entwicklung.
In den folgenden Tagen ergänzen Bob, Elisabeths Sohn, gerade aus dem Gefängnis entlassen, und die wohlstandsverwahrloste Eleonore, mit ihrem ewig schreienden Säugling die zufällig zusammengewürfelte WG.
Ein herrlicher Lesespaß mit überraschenden Wendungen. Schicht für Schicht blättert Kirchbauer Lebensgeschichten auf, erzählt leise Schicksale, die unter die Haut gehen und es wird deutlich, dass uns alle Lebensgeschichten prägen, die wir angehen müssen, um miteinander leben zu können.
Im hinteren Teil des Buches sagt Ella, wir sind alle Gestrandete. Und ja, quasi subkutan spritzt uns die Autorin gesellschaftliche Zustände ins Bewusstsein, die uns irgendwohin spülen und denen wir uns stellen sollen.
Lola Randl, Der große Garten, Matthes & Seitz
Der Berliner Verlag editiert die herrliche Sachbuchreihe Naturkunden und die Filmemacherin Lola Randl zieht aus der Stadt in die Uckermark, erzählt die Geschichte vom Miteinander, oder dem Nebeneinander, oder dem Gegeneinander der Menschen, der Tiere und der Natur.
Fast wie im richtigen Leben. Berlin hinter sich lassen, raus ins idyllische Brandenburg, ist auch dieses Buch eine flüssig, lustig und bewusst erzählte Geschichte mit Bonmots, Weisheiten, Verstrickungen und dem Hinweis, dass alles irgendwie verstrickt ist.
Tier und Natur sind beständig. Das unbeständige ist der Mensch. Lächelnd erfahren wir u.a. vom Mann (ohne Namen), der oft am falschen Fleck ist, dem Liebhaber (ohne Namen), dessen Standort diffus ist und das hakt und knufft, will analysiert, therapiert oder einfach gelebt werden. Eine Handlung, wirr, prall und mutig. Das Cover ist genial und voller Vorfreude kündige ich schon einmal das Erscheinen der Fortsetzung „Die Krone der Schöpfung“ für September an!
Stefan Beuse, Das Buch der Wunder, mairischverlag
Klappe: „Was stellst Du Dir denn vor? Du kannst nicht einfach die Frequenz der Welt ändern, Penny.“
Seine Schwester lag vollkommen ruhig. Tom hörte nicht mal ihr Atmen. „Nein“, sagte sie. „Aber unsere“.
Penny, die jüngere Schwester Toms, nimmt die Welt emotional und spielerisch auf. Liest in den Wolken, dem Wind, der Erde und zwischen den Zeilen, entdeckt Schätze und den Dschungel. Tom blättert täglich in des Vaters täglicher Lektüre „Welt der Wissenschaft“. Er sucht die logische Erklärung für den Clash of Culture.
Der Roman ist 2017 erschienen und vor dem Hintergrund unserer letzten Monate, in denen der Shutdown und ein Virus unseren Planeten zum Erschüttern und erheblichen Stillstand gebracht haben, bietet diese Geschichte eine literarisch-philosophische Auseinandersetzung über unsere Lebensgrundlagen, Wahrnehmungen und die Sichtbarkeit von Welten an.
Phantasie und/oder Logik, entscheidend ist der eigene Standpunkt und der Wunsch sich ein eigenes Bild zu machen.
Gerade in Zeiten von Fake-News, Manipulation und Verwirrung.
Bücher bleiben und so ist dieses Buch in der Buchhandlung wieder auf dem Tisch mit besonderen Büchern gelandet. Welcome back!
Christian Schulteisz, Wense, Berenberg
Ein schmaler Roman, 125 Seiten. Was für eine konzentrierte Wucht! Verlagstext: „Der Universaldilettant Wense wandert so, wie er forscht, übersetzt und komponiert: ekstatisch“.
Wer ist Wense, nie von ihm gehört! Hans-Jürgen von der Wense lebte von 1894 bis 1966, wanderte zehntausende Kilometer, schrieb zehntausende, vielleicht hunderttausende von Seiten, hochbegabt, rastlos, beobachtend, analysierend, leidend, hoffend.
Autor Schulteisz, 1985 geboren, erzählt über eine tragikomische Figur in furchtbarer Zeit.
1944, Kassel ist zerbombt, in Göttingen prüft er mit polnischen Zwangsarbeiterinnen und einem französischen Zwangsarbeiter Sonden für den militärischen Wetterdienst.
Aber vor allem mäandert er durch verlorene Städte und Landschaften, nimmt urbane Reste, (Natur)-Zerstörungen, irrlichternde Momente, Naturreste, Menschenopfer wahr und versucht eine Sicht auf diese Welt zu erfassen.
Oft führt es in eine Leere.
Körperliche Schmerzen beeinflussen die Wahrnehmung, Räume überwindend beherrscht sein enges Verhältnis zur Mutter seine Energie, homoerotische Vorlieben beseelen Zwischenräume.
125 Seiten Herausforderung, diskursiver Leseaktivität, jeder Satz zentral, jeder Absatz fordernd, ein eindringliches Lesevergnügen ohne Schlusspunkt.
Gianrico Carofiglio, Drei Uhr Morgens, Folio
Seit Jahrzehnten lese ich italienische Autoren (Carofiglio, de Certaldo, Sciascia, Camilleri), deren Romane, Thriller und Krimis die Zeitgeschichte Italiens der letzten 40 Jahre begleiten. Sie beobachten, agieren, beschreiben vor dem Hintergrund ihrer Professionen als Richter, Staatsanwälte, Politiker, Autoren und ihr Portfolio ist wahrlich beeindruckend.
Carofiglio hat nun mit „Drei Uhr Morgen“ sein neues literarisches Kapitel aufgeschlagen.
Im Mittelpunkt stehen Sohn und Vater einer (solidarisch) geschiedenen Familie.
Der Vater begleitet seinen Sohn zu einer neurologischen Untersuchung in die schöne, harte Stadt Marseille, der Sohn darf vor der Untersuchung 48 Stunden nicht schlafen.
Marseille wird für Beide zum Versuchslabor. Wachzustand, Erschöpfung, pulsierendes Stadtleben und melancholische Momente am Strand sind Hintergrund für einen spannenden psychologischen Roman. Die Protagonisten, in einem Extremmoment, auf der Suche nach der menschlichen Seele und ihren persönlichen, vielleicht auch familiären Ursprüngen.
Meisterhaft erspürt und erzählt!
Author: Jörg Braunsdorf
Jörg Braunsdorf ist Inhaber der 2010 gegründeten Tucholsky-Buchhandlung in der Tucholskystraße 47 in Berlin-Mitte.
Auszeichnungen: 4-maliger Gewinner des Deutschen Buchhandlungspreises, zuletzt für das Jahr 2020