Die Bücher Tipps im November 2020
Von Jörg Braunsdorf
06.11.2020
Verlagsgeschichten – Zeitgeschichten – Wurzeln und Identität. Verlage/Buchmacher*innen, ihre Autor*innen.
Ihre Werke sind Seismographen punktgenauer Momente oder längerer Zeitläufte sind.
Hier nun 5 aktuelle Glanzpunkte:
„Ein Tag wird kommen“, Giulia Caminito, Wagenbach Verlag
Mit den epochalen Essays „Freibeuterschriften“ von Pier Paolo Pasolini hat es für mich vor ca. 40 Jahren begonnen, die Ära italienischer Lektüre mit Büchern aus dem Wagenbach Verlag. Mit Natalia Ginzburg, Luigi Malerba, Leonardo Sciascia, Norberto Bobbio und Vielen weiteren setzte es sich fort. Francesca Melandris Romane ( u.a. Alle, außer mir) erzählen heute das letzte Jahrhundert, vor dem Hintergrund innen- und außenpolitischer, kolonisatorischer Prozesse und jetzt: die Römerin Giulia Caminito, die in Ein Tag wird kommen (Un giorno verà) die Geschichte ihres anarchistischen Großvaters in der Region Marken erzählt. Es ist sowohl eine italienische Familiengeschichte in Zeiten des aufkeimenden Faschismus, als auch ein Buch über Schuld, Widerstand und Mut. Caminito gelingt die meisterhafte Entwicklung einer zärtlich-rauen Brüdergeschichte, die für die Zivilsation ein Band der Liebe und der Hoffnung auf Zukunft bindet.
„Das Meer, Die Liebe, Der Mut aufzubrechen – Was uns die Argonautensaga erzählt“, Andrea Marcilongo, , Folio Verlag
Der Folio Verlag mit Sitz in Bozen und Wien verbindet in seinen Büchern das europäische Erbe der Aufklärung mit einer aus dem Leben Italiens gespeisten Begleitung kultureller und politischer Entwicklung. Dafür stehen u.a. die Romane von Giancarlo de Cataldo, Massimo Carlotto, Dacia Maraini oder Gianrico Carofiglio.
In diesem Spätsommer erschien nun der berühmte griechische Mythos, die Argonautensaga, neu gelesen für unsere Zeit, eine Zeit, die die große Erzählung vom Mut immer wieder neu aufzubrechen so dringend benötigt. Das Buch ist ein episch erzählter Mythos, Folie für philosophische Interpretationen, eine große Reiseeerzählung und lockt die Lesenden, wie Jason und seine Gefährten, aufzubrechen, Hindernisse zu überwinden, sein eigenes Leben im Hier und im Sein zu leben.
Man könnte meinen, alles etwas viel, in aktuellen Zeiten zwischen Corona und Klimaalarm, doch machen wir uns nicht klein, die Poesie weist einen Weg!
„Patience geht vorüber“, Margaret Goldsmith, Aviva Verlag
Britta Jürgs, die Verlegerin von Aviva ist immer auf der Suche nach Autorinnen und Biographien spannender Frauen der Zeitgeschichte in Romanen. Es hat den Anschein, als ob die Persönlichkeiten von Autorin, Romanfigur und Verlegerin in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen und das spricht für die authentische Qualität der Bücher. Beispielhaft stehen dafür Namen wie Lilli Grün, Ruth Landshoff-York und auch die genialen literarischen Sachbücher der Historikerin Kristine von Soden.
Jetzt Margaret Goldsmith, 1895 in Milwaukee geboren, in Berlin aufgewachsen, Vermittlerin deutscher Literatur in die Welt, Übersetzerin u.a. von Anna Seghers, Vicki Baum und Erich Kästner.
Der Roman erzählt die Geschichte von Patience und Grete, deren Mut zu leidenschaftlicher Liebe, dem Spannungsfeld traditioneller Beziehungen, dem Konfliktfeld sozialistischer Ideen und großbürgerlicher Erwartungen. Goldsmith wandelte in verschiedenen Welten und ihre Hauptfigur Patience verkörpert den Menschen mit offenem Blick für Neues. Eine humorvolle, kluge Erzählung, angesiedelt in Europa zwischen 1918 und 1930.
„Spaghetti al Pomodoro – Kurze Geschichte eines Mythos“, Massimo Montanari,Wagenbach Verlag
Ein lustiger, voller Phantasie, Wissen und Empathie geschriebener Essay über, ja worüber: Über die Erfindung der Teigwaren, über die Kulturgeschichte der italienischen Speisen, über Ursprünge von Entwicklungen, über ökononomische, soziale, kulturelle Substrate? Oder über Identität und Lebendigkeit (aller Kreaturen), wofür Montanari Leonardo da Vinci zitiert: „Bewegung ist die Ursache allen Lebens.“
Marco Polo, Sizilien, Pasta, Käse auf Maccheroni, Essen mit der Gabel, Al dente, Tomate, Olivenöl, Knoblauch und Zwiebel, Spaghetti-Baum.
Die Konfrontation mit den Ideen Montanaris gleichen einer „glücklichen Begegnung“ (S.91), auf dass es, wie es der Autor im Vorwort wünscht, gelingen möge, „daß ein schlichtes Erzählen der Fakten dazu beitragen kann, den Sinn von Worten und Dingen freizulegen.“ Montanaris Experiment also: „Kann man sich vor einem Teller Spaghetti al Pomodoro zu Tisch setzen und über den Sinn von Wurzeln, Identität und Ursprüngen nachdenken? (S.14). Veruchen wir es! Buon appetitto, buona idea!
„Roter Staub“, Isabela Figueiredo, Weidle Verlag
Im Weidle Verlag aus Bonn finde ich praktisch jedes Jahr Romane, die zuverlässig meinen „Handapparat“ von Büchern, die möglichst immer in der Buchhandlung präsent sein sollten, bereichern. Bücher, die seit Jahrzehnten „dabei“ sind und wenn sie vergriffen sein sollten, suche ich sie auch antiquarisch. Barbara und Stefan Weidles Gespühr für wichtige und spannende internationale Romane ist genial. Zum Beispiel Shenaz Patels, Die Stille von Chagos, in dem die Autorin literarisch über die Vertreibung der Chagossianer vom Chagos-Archipel erzählt.
Die Autorin Isabela Figueiredo wurde in Maputo geboren und 1975 nach der Unabhängigkeit Mosambiks vom Vater nach Portugal zu ihrer Mutter geschickt. In dem Roman beschreibt sie die brutale koloniale Ausbeutung Mosambiks durch die Portugiesen. Eine hautnahe und persönliche Erzählung, in deren Mittelpunkt ihr Vater steht, ein Elektriker, der es für selbstverständlich hält, kumpelhaft mit den Einheimischen Arbeitskollegen umzugehen, darüberhinaus aber selbstverständliche Privilegien einer angeblichen Herrenrasse in Anspruch nimmt.
Das literarische Geschick eine harte Geschichte rassistischer Ausbeutung aus kindlicher Sicht zu erzählen, den Spagat auszuhalten, über einen geliebten Vater zu erzählen, der Unterdrückung für selbstverständlich hält, fasziniert, fesselt und erschreckt gleichermaßen. Koloniale Unterdrückung ist die Grundlage für ungerechte Verhältnisse auf den Kontinenten. Das hat Isabela Figueiredo schon als Kind erlebt und als Autorin verarbeitet.
Tucholsky-Buchhandlung
Inh. Jörg Braunsdorf
Tucholskystraße 47
10117 Berlin
Tel: 030/27577663
Author: Jörg Braunsdorf
Jörg Braunsdorf ist Inhaber der 2010 gegründeten Tucholsky-Buchhandlung in der Tucholskystraße 47 in Berlin-Mitte.
Auszeichnungen: 4-maliger Gewinner des Deutschen Buchhandlungspreises, zuletzt für das Jahr 2020