Die Bücher Tipps im September 2020

Bücher Tipps im September © kultur24.berlin

Die Bücher Tipps im September 2020

 

Von Jörg Braunsdorf

20.09.2020

Spätsommerlektüren – Übergänge – Zeitgeschichte(n) und literarische Zuspitzungen

Literarisch ist der Spätsommer eine der produktivsten Jahreszeiten für interessante Bücher und längere Leseabende. Hier nun ein paar Empfehlungen! Auch wenn die Buchmesse im Oktober ohne Messetrubel stattfindet, in der Buchhandlung um die Ecke ist quasi täglich Buchmesse!

Tucholsky Buchhandlung © Jörg Braunsdorf

‚DAS MEER AM 31. AUGUST“, Jürgen Hosemann, Berenberg Verlag

Vierundzwanzig Stunden das Meer begleiten, alles was mit, in und um die Wasserfläche geschieht beobachten, wahrnehmen, bedenken, unterbrechen, fortsetzen.
Die Lektüre, wertvolle 110 Seiten, weckt Erinnerungen an persönliche Meeresmomente, fiktionale Erzählungen und Erinnerungen spielen miteinander.
Im Meer, dieser fragilen, sich stündlich, im Minutentakt und im Tagesrhythmus entwickelnden Fläche, spiegeln sich Zeit und Wahrnehmung, geduldig, neutral, überraschend.
„Passiert denn nichts? Passiert nichts, aber davon ganz viel? Und was passiert, wenn nichts passiert? Ein Schiff wie ein Gedanke …“ (S. 63/64)
Aber: Die Mittelmeerwirklichkeit ist unbarmherzig, eine kurze Zeitungslektüre, Flüchtlingsboote sinken, „Etwa zweieinhalb bis dreitausend Tote in der ersten Hälfte dieses Jahres. Du hast dich an einen Friedhof gesetzt.“ (S. 71)
Was folgt an Ende, am Beginn des nächsten Tages!
Der 31. August, der Sommer neigt sich dem Ende, der nächste, der 1. September steht bereit.
Hosemann hat ein philosophisch-literarisches Kleinod geschaffen.
Ein Glück für eine ruhige Lesezeit!

„DAS MEER AM 31. AUGUST“, Jürgen Hosemann © Berenberg Verlag


„DIE MARESCHALLIN“, Zora del Buono, Beck Verlag

Die Autorin Zora del Buono erzählt die Geschichte ihrer Familie und ihrer Großmutter gleichen Namens, Zora del Buono, geboren in Slowenien.
Ein mächtiger Roman, persönliche und politische Zeitgeschichte des letzten Jahrhunderts bis in die 80er Jahre, dem Tod Titos.
Zora del Buono (die Großmutter, sie kannte Tito persönlich) und ihr sizilianischer Ehemann (er war Arzt von Tito) leben eine großbürgerliche und auch eine solidarische Realität, wider den Faschismus, in Bari/Apulien.
Im Roman geht es auch um den Gründer der Kommunistischen Partei Italiens, Antonio Gramsci, um den Faschisten Mussolini, natürlich um Tito, es geht um das Engagement für Menschlichkeit und gegen Faschismus. Alle diese Ziele und Widersprüche verkörpert die Familie der Marschallin in all ihren Verästelungen.
Sie hält die Zügel in den Händen. Dem Roman ist die Kernaussage der Nonna und ihres Mannes vorangestellt, „Kommunismus ist Aristokratie für Alle“. Warum nicht!
Dem „Todesmut“ der menschlichen Kreatur im Umgang mit unserem einzigen Planeten Erde täte eine entschlossenes Gegensteuern gut!

„DIE MARESCHALLIN“, Zora del Buono © Beck Verlag


„MILCHBRÜDER, BEIDE“, Bernt Spiegel, editionfotoTAPETA

Deutschland Ende der zwanziger Jahre der letzten Jahrhunderts. Der Sohn des Konsuls und der Sohn des Chauffeurs wachsen, mit einer gemeinsamen Amme, in einer großbürgerlichen Villa auf.
Ersterer wird begeisterter Flieger (im 2. Weltkrieg auch militärischer Flieger), letzterer macht in der SA und der SS Karriere.
Beide verlieren sich nie ganz aus den Augen.
Der Autor hat acht Jahre an dem opulenten Roman gearbeitet, mit Fertigstellung ist er 94 Jahre alt!
Spiegel beschreibt soziale und politische Milieus und gesellschaftliche Stimmungen. Aber vor allem erzählt er literarisch und spannend, wie die Massenpsychologie des Faschismus wirkt. Konkret wird es in den Lebensläufen der beiden Milchbrüder und der Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung.
Kierkegaard ́s Feststellung, das Leben wird nach vorne gelebt, aber nach hinten verstanden, definiert den Wert und die Aktualität des Romans.
Auch heute hören wir Parolen, die sich harmlos geben, jedoch für kurzfristige Egoismen die friedliche Zukunft für Natur, Tiere, Menschen und unseren Planeten zerstören wollen.

„MILCHBRÜDER, BEIDE“, Bernt Spiegel © editionfotoTAPETA


„PARADISE CITY, Zoe Beck, Suhrkamp

Dieser Roman beschreibt eine Dystopie. Deutschland in ca. 100 Jahren.
Hochwasser hat das Land überschwemmt, Pandemien die Bevölkerung halbiert (das Manuskript wurde 2018 fertiggestellt), die Natur erobert sich verlassene Ortschaften zurück.
Berlin ist nur noch Kulisse für Touristen, Frankfurt/M Hauptstadt mit 10 Mio Einwohner*innen.
Allen geht es gut – solange sie keine Fragen stellen. Die Hauptfigur des Romans, Lina, arbeitet für eine der wenigen privaten Medienagenturen, sonst ist alles staatlich kontrolliert. Sie ist Risikopatientin. Eine Recherche offenbart ihr, dass die Macht über Leben und Tod zu entscheiden außer Kontrolle geraten kann. Algorithmen garantieren keine Gerechtigkeit.
Dystopien sind nicht zwangsläufig, zerstörerische Entwicklungen fallen nicht vom Himmel.
Diese Botschaft steckt in dem spannenden Thriller von Zoe Beck. Es könnte allerdings irgendwann zu spät sein.
Die Autorin hat in der Tradition von Orwell, Atwood, Bradbury, Eggers, einen Roman geschrieben, der verdeutlicht, was Machtzentren und der Einsatz sogenannter Künstlicher Intelligenz bedeuten.

„PARADISE CITY“, Zora Beck © Suhrkamp Verlag


„TAGE MIT FELICE“, Fabio Andina, Rotpunktverlag

Romane erzählen auch reale Märchen! Hier ist eins!
Dieser Roman erzählt in 9 Kapiteln, an neun Tagen, von dem 90-jährigen Felice und seinem Alltag in den Bergen im Tessin, vom Dorf in dem Felice wohnt und seinen Bewohner*innen.
Ein Tagesrhythmus, von den Naturabläufen skizziert, vom Menschen verstanden.
Morgens, vor dem Sonnenaufgang, bricht Felice, egal welches Wetter, zum Bad in der Gumpe auf dem Berg auf.
Sein Tag sind die Menschen, deren hilfsbereite Nachbarschaft, die Tiere, die Berge, das Holz, der Treffpunkt im Gasthof.
Begleitet wird er in diesen Tagen von einem jüngeren Begleiter, der Schritt für Schritt begreift, worauf es ankommt.
Dieser Roman, dieses moderne Märchen, bietet uns an, die Welt selbstbestimmt zu leben und zu begreifen, den natürlichen Kreislauf der Natur zu bewahren.
Die scheinbare Unendlichkeit künstlichen Lebens wird ad absurdum geführt.
Der Autor verzichtet auf erzählerische Spannung, auf Abenteuer und benötigt keinen kriminellen Plot.
Es fesselt der Tagesablauf, sparsame Dialoge, die Stimmung im Berg.

„TAGE MIT FELICE“, Fabio Andina © Rotpunktverlag

Tucholsky Buchhandlung
Jörg Braunsdorf
Tucholskystrasse 47
10117 Berlin
Tel. 030 275 77 663
kurt@buchhandlung-tucholsky.de

 

Author: Holger Jacobs

Founder & Editorial Director of kultur24.berlin ug.
Founder & Editorial Director of kultur24 TV on Youtube.
Former correspondent for fashion in Paris.
Photographer, writer and filmmaker.

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