Endlich wieder Bühne live – Sasha Waltz im Radialsystem
Von Holger Jacobs
24.08.2020
Endlich, endlich wieder Aufführungen live erleben nach 6 Monaten der Abstinenz.
Zur neuen Saison 2020/ 2021 sollen ab September wieder alle Opern- und Theaterhäuser ihre Tore dem Publikum öffnen.
Sasha Waltz machte an diesem Wochenende mit ihrer Tanzkompanie SASHA WALTZ & GUESTS den Anfang.
Vom 20. bis zum 23. August zeigten 27 Tänzer*innen ein neues Stück der „DIALOGE“ – Reihe:
„Dialoge 2020 – Relevante Systeme“.
Die erste Frage, die sich in unserer heutigen Zeit bei einer Veranstaltung vor Publikum stellt, ist leider nicht die Frage über die künstlerische Aussage, sondern die Frage über die technische Durchführung des Events im Hinblick auf die Corona-Pandemie und die mit ihr einhergehenden Abstands – und Hygienemaßnahmen.
Sasha Waltz und ihr Team lösten die Abstandsregeln dadurch, indem sie das Publikum in drei Gruppen aufteilten, die an drei unterschiedlichen Orten des Gebäudes drei unterschiedlichen Tanz-Ensembles zuschauen durften.
Den Anfang des Abends machten erst einmal kleine Performances von einzelnen Tänzer*innen am oder im Gebäude, indem sie bestimmte vorgegebene Strukturen des Hauses nutzten, um etwas darzustellen.
Eine einheitliche Deutung dieser Darstellungen fällt schwer, dennoch mag der Betrachter einen gewissen Kampf der Ausführenden mit Elementen und Materialien ihrer Umgebung erkennen.
Einer kämpft mit Plastikplanen aus den Müllcontainern, ein anderer mit Steinen, eine andere mit Wasser aus einem Hahn, wieder eine versucht sich der Umklammerung von Baumzweigen zu befreien und wieder andere versuchen die Grenzmauern des Grundstücks zu erklimmen.
Im zweiten Teil kommt die Aufteilung in drei Gruppen.
Meine Gruppe „gelb“ durfte vor einem Rasen auf der östlichen Seite des Gebäudes auf eilig herbeigebrachten Stühlen Platz nehmen.
Jeder Stuhl wurde auf eine vorher mit weißer Farbe markierten Stelle am Boden gestellt, sodass die Abstände der Zuschauer immer exakt 1,50 Meter betrugen.
Hier wurde uns eine bereits existierende Choreographie präsentiert:
„SACRE“, welche Sasha Waltz 2013 für das Théatre des Champs-Élysées zum 100. Geburtstag der Erstaufführung von Igor Strawinskys „Le sacre du printemps“ kreiert hatte.
Im März 2017 hatte sie diese Choreographie dann in der Staatsoper Berlin (damals noch, wegen des Umbaus der Oper Unter den Linden, im Schillertheater) präsentiert. Am Pult der Staatskapelle: Daniel Barenboim.
Kultur24 hatte über „SACRE“ in der Staatsoper ausführlich berichtet.
Und nun „SACRE“ auf dem kleinen Rasen vor dem Radialsystem.
Die Wucht der Musik von Strawinsky und die ausdrucksstarke, energiereiche Choreographie von Sasha Waltz kommt auch hier zum Tragen: Vorübergehend vergisst der Zuschauer wo er ist, wie er sitzt und alles, was mit Corona zu tun hat – Die Magie der Vorstellung wirkt und lässt uns in eine andere Welt entschwinden. Auf dieses Gefühl habe ich 6 Monate gewartet!
Im dritten Teil muss sich unsere Gruppe nach vorne auf eine Art Terrasse zur Spree begeben.
Dieses Mal keine Stühle, sondern nur Punkte auf dem Boden. Zum Glück gibt es einen weißen Fleck direkt an der Reling zum Wasser, so dass ich mich zumindest anlehnen kann.
Der dritte Teil des Abends bringt eine ganz neue Choreographie zu der berühmten Musik „BOLERO“ von Maurice Ravel.
Wie schon bei Strawinsky ist die Musik bei Ravel allein schon ein Grund, um ins Schwärmen zu geraten.
Gerade der starke, langanhaltende Rhythmus des „Bolero“, der sich immer intensiver und lauter in ein finales Crescendo steigert, lässt einen selbst schon in Tanzbewegungen geraten.
Sasha Waltz lässt den „BOLERO“ beginnen, indem sich mehrere Tänzerinnen und Tänzer als Paare vereinen und beginnen sich zu der Melodie zu bewegen.
Nach einigen Minuten lösen sich die Verbindungen und neue Paare entstehen. Auch Alleinstehende werden mit einbezogen, andere wiederum werden zu Singles. Am Schluss bilden alle gemeinsam eine Reihe und bewegen sich im Gleichschritt zur Musik.
Keiner ist mehr allein, die Paarbindungen sind aufgehoben.
Leider war es mir nicht möglich für meinen Kulturkanal kultur24 TV ein Video mit Bewegtbildern zu drehen, ich hätte Euch gerne etwas von der Choreographie gezeigt. So müsst Ihr es Euch im Geiste vorstellen.
Nach dem Reinfall von „Rauschen“ hat Sasha Waltz mal wieder gezeigt, warum sie nach wie vor einer der besten Choreographen unserer Zeit ist und eine würdige Nachfolgerin der legendären Pina Bausch (siehe dazu auch den Film „Pina“ vom Wim Wenders, zurzeit kostenlos in der ARD-Mediathek).
Die „DIALOGE“ Reihe begann Sasha Waltz bereits sehr früh am Anfang ihrer Karriere im Jahre 1993 im Kunsthaus Bethanien.
Sie benutzt diese Form, um neue Choreographien auszuprobieren und ihre Wirkung auf das Publikum zu testen. Gut möglich also, dass auch aus „BOLERO“ noch eine abendfüllende Choreographie wird.
Besondere Aufmerksamkeit erlangte innerhalb der „DIALOGE“ Reihe die Choreographie zu „DIALOGE 2009 – Neues Museum“, welches zur Einweihung des im Krieg zerstörten Museums auf der Museumsinsel in den noch leeren Räumen kurz vor der Eröffnung gezeigt wurde.
„DIALOGE 2010 – Relevante Systeme“
Choreographie: Sasha Waltz
Mit den Tänzer*innen von Sasha Waltz & Guests:
Ayaka Azechi, Blenard Azizaj, Jirí Bartovanec, Anne Brinon, Davide Camplani, Maria Marta Colusi, Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola, Davide Di Pretoro, Luc Dunberry, Yuya Fujinami, Tian Gao, Hwanhee Hwang, Annapaola Leso, Margaux Marielle-Tréhoüart, Sergiu Matis, Sean Nederlof, Virgis Puodziunas, Sasa Queliz, Zaratiana Randrianantenaina, Aladino Rivera Blanca, Orlando Rodriguez, Mata Sakka, Yael Schnell, Claudia de Serpa Soares, Wibke Storkan, Joel Suárez Gómez, Stylianos Tsatsos
Anbei 9 Fotos von der Produktion „Dialoge 2020 – Relevante Systeme“:
English text
Finally live on stage again – Sasha Waltz in the radial system
By Holger Jacobs
Finally, finally seeing performances live again after 6 months of abstinence.
For the new 2020/2021 season, all opera and theaters should open their doors to the public again from September.
Sasha Waltz started this weekend with her dance company Sasha Waltz & Guests.
On August 20-23, 27 they performed a new piece in the “DIALOGE” series: “Dialoge 2020 – Relevante Systeme”.
The first question that arises at an „live“ – event today is not the question about the artistic statement, but the question about the technical implementation of the event with regard to the corona pandemic and the associated distance – and Hygiene measures.
Sasha Waltz and her team solved it by dividing the audience into three groups, which were allowed to watch three different dance ensembles at three different locations in the building.
The evening began, however, with small performances by individual dancers on or in the building, using certain given structures in the house to represent something. An interpretation of these representations is difficult, but the viewer may recognize a certain struggle between the performers and elements and materials in their surroundings. One dancer fights with plastic sheeting from the dumpster, another fights with water from a tap, another tries to free himself from the clasps of tree branches and others try to climb the boundary walls of the property.
The second part is divided into three groups.
My group „yellow“ was allowed to take a seat in front of a lawn on the east side of the building on chairs that had been hastily brought over. Each chair was placed on a spot on the floor previously marked with white paint, so that the distance between the audience was always exactly 1.50 meters.
Here we were presented with an existing choreography: “SACRE”, which Sasha Waltz had created in 2013 for the Théatre des Champs-Élysées for the 100th birthday of the first performance of Igor Stravinsky’s “Le sacre du printemps”. In March 2017 she presented this choreography at the Berlin State Opera (at that time, because of the renovation of the Unter den Linden opera, in the Schillertheater). At the desk of the Staatskapelle: Daniel Barenboim.
Kultur24 reported in detail about „SACRE“ in the State Opera.
And now “SACRE” on the small lawn in front of the radial system.
The force of the music by Stravinsky and the expressive, energetic choreography by Sasha Waltz also comes into play here: the viewer temporarily forgets where he is, how he sits and everything that has to do with Corona – the magic of the performance works and leaves us disappear into another world. I’ve waited 6 months for this feeling!
In the third part, our group has to go to the front of a kind of terrace facing the Spree.
This time no chairs, just points on the floor.
Luckily there is a white spot right on the railing to the water so that I can at least lean against it.
The third part of the evening comes with a completely new choreography to the famous music „BOLERO“ by Maurice Ravel.
As with Stravinsky, the music with Ravel alone is a reason to get into raptures.
Especially the strong, long-lasting rhythm of the „Bolero“, which increases more and more intensely and louder into a final crescendo, lets you get into dance movements yourself.
Sasha Waltz lets the „BOLERO“ begin by combining several dancers as pairs and starting to move to the melody.
After a few minutes, the connections loosen and new couples emerge. Singles are also included, while others become singles.
At the end, everyone forms a row and moves in step with the music. Nobody is alone anymore, the bonds between couples are broken.
Unfortunately it was not possible to shoot a video with moving images for my culture channel Kultur24 TV, I would have liked to show you the movements. So you have to imagine it in your mind.
After the failure of „Rauschen“ Sasha Waltz showed again why she is still one of the best choreographers of our time and a worthy successor to the legendary Pina Bausch (see also the film „Pina“ by Wim Wenders, currently free in the ARD media library).
Sasha Waltz began the „DIALOGUE“ series very early in her career in 1993 at the Kunsthaus Bethanien.
She uses this form to try out new choreographies and to test their effect on the audience. So it is quite possible that “BOLERO” will become a full-length choreography.
Within the “DIALOGE” series, the choreography for “DIALOGE 2009 – Neues Museum”, which was shown for the inauguration of the museum on Museum Island, which was destroyed in the war, in the still empty rooms shortly before the opening, received special attention.
„DIALOGUE 2010 – Relevant Systems“
Choreography: Sasha Waltz
With the dancers from Sasha Waltz & Guests:
Ayaka Azechi, Blenard Azizaj, Jirí Bartovanec, Anne Brinon, Davide Camplani, Maria Marta Colusi, Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola, Davide Di Pretoro, Luc Dunberry, Yuya Fujinami, Tian Gao, Hwanhee Hwang, Annapaola Leso, Margaux Marart-Tréhoü Sergiu Matis, Sean Nederlof, Virgis Puodziunas, Sasa Queliz, Zaratiana Randrianantenaina, Aladino Rivera Blanca, Orlando Rodriguez, Mata Sakka, Yael Schnell, Claudia de Serpa Soares, Wibke Storkan, Joel Suárez Gómez, Stylianos Tsatsos.
Enclosed 9 photos from the production „Dialoge 2020 – Relevant Systeme“:
Author: Holger Jacobs
Founder & Editorial Director of kultur24.berlin ug.
Founder & Editorial Director of kultur24 TV on Youtube.
Former correspondent for fashion in Paris.
Photographer, writer and filmmaker.