Götterdämmerung in der Staatsoper Unter den Linden

"Goetterdämmerung" - Staatsoper Berlin © kultur24.berlin

Götterdämmerung in der Staatsoper Unter den Linden

 

Von Marty Sennewald

10.10.2022

Es war ein großes Wähnen und Deuten. Manchmal ein Bangen und Hoffen. Am Ende aber scheint das gewagte Experiment Tcherniakovs gescheitert.

Als ich an der Garderobe stehe und meinen Mantel in Empfang nehme, begleitet mich ein sonderbares Gefühl. Als wäre ich hier noch nicht fertig. Als sollte ich noch nicht gehen. Als wäre es noch nicht an der Zeit. Und dabei habe ich bald eintausend Minuten hier (ab)gesessen. Vier Abende innerhalb einer Woche. Der gesamte Ring als Premiere. Das ist sowohl für die Beteiligten als auch für das Publikum unüblich und herausfordernd. Natürlich, ein solcher Kraftakt könnte durchaus gelingen und Freude bereiten, könnte an die ursprüngliche Intention des alten Wagner heranreichen. Aber fröhliche Erleichterung, kartharsische Befreiung oder eine tiefe ästhetische Erfahrung wollen sich bei mir an diesem letzten Abend nicht einstellen. Es ist eher ein Konglomerat aus Unabgeschlossenheit, Unzufriedenheit und Unfertigkeit. Als hätte Tcherniakov mich einfach hinausgeworfen, mich in Unwissenheit lassend hinausbefördert und stehen gelassen.

Noch vor wenigen Minuten saß ich auf dem ersten Rang, umgeben von den tosenden Bekundungen eines gnadenlosen, beinahe brutalen Wagnerpublikums. Als der Vorhang fällt, flutet Beifall das Dunkel. Gegenüber den Sängerinnen und Sängern lässt man Güte walten. Andreas Schager und Anja Kampe haben das Publikum überzeugt. Der heimliche Star der Inszenierung ist gewiss Mika Karos. In seinen mächtigen Bass-Rollen als Fasolt, Hunding und Hagen hat er durchweg brilliert. Auch Thielemann und das Orchester umströmen abermals Bravo-Rufe und frenetischer Applaus.

Doch als Tcherniakov und das Regie-Team die Bühne betreten, fegt das tiefe Grollen eines Buh-Sturmes durch den Saal. Und er will nicht enden. Zu immer neuen bösen Wellen hebt dieser Sturm der Entrüstung an, findet erst ein Ende, als der Vorhang abermals heruntergelassen wird. Es ist nicht das erste Mal innerhalb dieser Ring-Inszenierung, dass das Publikum sich als äußerst rabiat erweist. Schon Rolando Villazón (Loge) musste nach der Premiere des Rheingolds mit dieser ungnädigen Art der Kritik lernen umzugehen.

Fazit einer Woche

Es war ein großes Wähnen und Deuten. Manchmal ein Bangen und Hoffen. Am Ende aber scheint das gewagte Experiment Tcherniakovs gescheitert. Die gesamte Belegschaft des Forschungsinstituts E.S.C.H.E. hat sich um den Leichnam des Siegfried versammelt und betrauert sein Ableben. Institutschef Wotan (Michael Volle) schleppt sich auf Krücken zum Verendeten. Die Rheintöchter schauen betreten drein. Auch Gunther (Lauri Vasar) ist anwesend. Die vermeintlich eingekerkerten Probanden stehen Schulter an Schulter mit ihren Peinigern.

Das Auseinanderreißen der Handlung, das Tcherniakov in seiner Inszenierung so unermüdlich vorangetrieben hatte, der gewagte doppelte Boden, er will im großen letzten Akt nicht gelingen. Und die Szene um Siegfrieds Tod steht symptomatisch dafür ein.

Die herausgelöste Welt der Probanden vermengt sich nahtlos mit den Schicksalen der Institutsbetreibenden. Was hier noch fingierte Versuchsanordnung sein soll und was tatsächliche Begebenheit? Die Götterdämmerung gleicht einem Fragenkatalog, einer langen und mitunter verzweifelten Suche nach Anhaltspunkten, Stringenz und Schlüssigkeit; und stiftet leider nur Verwirrung denn einen inhaltlichen Mehrwert.

Was im Siegfried gelungen war, das will heute nicht gelingen. Die Götterdämmerung gleicht einem Flickenteppich. Dass auf der Bühne Smartphones gezückt werden, um Siegfrieds Eidschwur zu bezeugen und später Basketbälle durch den Raum fliegen, das verweigert sich vehement einer schlüssigen Gesamtdeutung.

Und schließlich das Finale: dekonstruiert und entzaubert. Kein Sprung ins Feuer, kein Rhein schwillt an. Der Ring wird nicht zurückgegeben. Stattdessen steht Brünnhilde einsam inmitten des leergefegten Bühnenraums und blickt ehrfürchtig auf riesige Lettern, die durch die Dunkelheit leuchten. Es sind Sätze, die Wagner 1872 mit Bleistift in sein Heft notierte und bald darauf wieder verwarf. Hier erblicken sie vielleicht zum ersten Mal das Licht einer Bühne.

Hier unser Video-Trailer zur „Götterdämmerung“:

Draußen vor der Tür

Wenn also schon nicht uneingeschränkt sehenswert, so ist die neue Inszenierung an der Staatsoper doch allemal ein Hochgenuss für das Ohr. Das Drama um Daniel Barenboim (leidet unter Vaskulitis – einer Entzündung der Blutgefäße) hat die ausgelöste Begeisterung für das Orchester um Christian Thielemann nicht geschmälert. Die Auswahl und Qualität der Sängerinnen und Sänger übertraf um Längen die vorangegangene Inszenierung von Stefan Herheim an der Deutschen Oper.

Als ich Unter den Linden stehe und in die leuchtende Kulisse der Stadt sehe, drängen Worte an mein Ohr. Manche harsch und schneidend. Andere weich und versöhnlich. Bei aller Kritik, sagt ein älterer Herr im Frack, das sei, rein musikalisch gesehen, die beste Inszenierung seit vierzig Jahren. Ich drehe mich um. Jetzt sehe ich es. Christoph Waltz steht daneben. Aber er sagt nichts und verschwindet in der Nacht.

 

„Götterdämmerung“ von Richard Wagner
Premiere am 09.10.2022
Staatsoper Unter den Linden
Musikalische Leitung: Christian Thielemann
Inszenierung: Dmitri Tcherniakov
Kostüme: Elena Zaytseva
Mit: Andreas Schager (Siegfried), Lauri Vasar (Gunther), Mika Kares (Hagen), Violeta Urmana (Gutrune), Johannes Martin Kränzle (Alberich), Anja Kampe (Brünnhilde), Evelin Novak (Woglinde), Natalia Skrycka (Wellgunde), Anna Lapkovskaja (Flosshilde), Noa Beinart (erste Norne), Kristina Stanek (zweite Norne), Anna Samuil (dritte Norne).
Staatskapelle Berlin

 

Bilderserie  mit 16 Fotos der „Götterdämmerung“-Produktion:

Brünnhilde (Anja Kampe), Siegfried (Andreas Schager), „Siegfried“, Staatsoper Berlin, Photo: Holger Jacobs

 

Author: Marty Sennewald

Marty Sennewald promoviert zurzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin im Fach „vergleichende Literaturwissenschaft“. 

Daneben ist er als freiberuflicher Schriftsteller und Musiker tätig, lebt und arbeitet in Berlin.

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