Quartett von Heiner Müller in der Staatsoper Berlin
Von Holger Jacobs
04.10.2020
Wertung: 🙂 🙂 🙂 🙂 🙂 (fünf von fünf)
Gefährliche Liebschaften, Erotik und Sex auf der Bühne des Opernhauses Unter den Linden
Um es gleich vorneweg zu sagen: Die Premiere am Samstag Abend von „Quartett“ in der Staatsoper Berlin war das Beste, was ich seit langem auf einer Bühne in Berlin gesehen habe. Egal ob auf einer Opern- oder Theaterbühne.
Hier meine Kritik auch als Podcast:
Film
Das Drama „Quartett“ von Heiner Müller basiert auf dem Briefroman „Les liaisons dangereuses“ (Gefährliche Liebschaften) des französischen Schriftstellers Pierre Choderlos de Laclos. Wer vielleicht dieses Stück von Heiner Müller noch nicht gesehen und den Briefroman von de Laclos noch nicht gelesen hat, der wird vielleicht die geniale Verfilmung von Stephen Frears aus dem Jahr 1988 kennen. Mit der noch blutjungen Uma Thurman als die naive Cécile de Volange, Michelle Pfeiffer als die tugendhafte Madame de Tourvel, Glen Close als die böse Marquise de Merteuil und John Malkovich als galanter Vicomte de Valmont. Alle anderen Verfilmungen, ob vorher oder nachher, kommen qualitativ nicht an diesen Film von Stephen Frears heran. Eine Empfehlung also für die jetzt kommenden langen Winternächte…
Drama
Heiner Müller schrieb das Theaterstück „Quartett“ 1980 als reines Zweipersonenstück. In diesen ca. 90 Minuten kommt es zu einem psychologischen Wortgefecht zwischen der Marquise de Merteuil und dem Vicomte de Valmont, bei dem beide mehrfach die Rollen tauschen. Merteuil spielt mal sich selbst, mal Valmont oder mal die naive Volange und Valmont spielt sich selbst und die tugendhafte Tourvel. Rhetorisch zerlegen sich die Beiden gegenseitig, indem sie sich Lasterhaftigkeit, Lüge, Sexsucht und Boshaftigkeit vorwerfen. In drastischen, mit Andeutungen gespickten Sätzen, wie:
„Wenn etwas fällt, muss es wieder aufgerichtet werden…Geben Sie mir die Hand, Madame…(mit einem Juchzen) Das ist die Auferstehung…“. Ich hoffe, Ihr wisst, worauf hier angespielt wird.
Oder am Ende des (gespielten) Liebesaktes zwischen Valmont und Tourvel:
„Drei Löcher hat das Paradies…“ verbunden mit einem langen Stöhnen.
Handlung
Worum geht es in den „Liaisons Dangereuses“?
Die Marquise de Merteuil ist eine reiche und verwitwete Frau, die sich um nichts anderes kümmert, als um Intrigen und Ränkespiele in der dekadenten Gesellschaft des Ancien Régime, wenige Jahre vor der Französischen Revolution.
Die Marquise ist wütend, weil ihr junger Liebhaber, der Comte de Gercourt, sie verlassen hat und nun die junge Cécile de Volange heiraten soll. Sie bittet ihren früheren Geliebten, Vicomte de Valmont, die naive Cécile zu verführen, damit diese nicht mehr jungfräulich in die Ehe mit Gercourt gehen kann, was damals natürlich eine Schande bedeutete. Durch einen Trick gelingt dies Valmont auch. Gleichzeitig will Valmont die tugendhafte und verheiratete Madame de Tourvel verführen, weil er sich in sie verliebt hat. Und auch das gelingt. Doch dies nimmt ihm die Marquise übel und verachtet ihn, weil er die Liebe in einem, als reines Verführungsspiel vorgesehenen Akt, zugelassen hat.
Aus Verbündeten werden Gegner.
Schließlich stirbt Valmont in einem durch die Merteuil arrangiertem Duell. Wenig später wird sie selbst entehrt, als die Briefe mit all ihren Schandtaten, die sie Valmont nämlich geschrieben hatte, veröffentlicht werden. Sie wird zu einer Ausgestoßenen der Gesellschaft.
Hier mein Video:
Oper
Luca Francesconi (*1956) vertonte 2011 dieses Zweipersonen-Kammerspiel von Heiner Müller. Wer diesen italienischen Komponisten noch nicht kennt: Er lernte Klavier und Komposition in seiner Geburtsstadt Mailand am dortigen Konservatorium (u.a. bei Karlheinz Stockhausen) und erhielt im Laufe seines Musikerlebens zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den ERNST VON SIEMENS FÖRDERPREIS.
Kritik
Ein Wort zu der neuen Corona-Abstandsregelung (sie gilt seit dem 11.09.2020):
In den Veranstaltungshäusern ist jetzt ein Schachbrettmuster möglich, welches sich bereits bei den Salzburger Festspielen bewährt hat.
Das heißt: drei Plätze werden jeweils links und rechts eines Zuschauers freigelassen. Genau dort sitzen in den Reihen davor und dahinter die nächsten Zuschauer. Das bringt anstatt einer 20-prozentigen jetzt eine 30 bis 40-prozentige Auslastung. Dafür müssen aber die Masken auch während der gesamten Vorstellung aufbleiben!
Kaum, dass der Zuschauer den großen Saal betreten hat, sieht er einen riesigen grauen Bunker in Form eines überdimensionalen Iglos. Zu Beginn dreht sich der Bunker und dessen Innenraum wird sichtbar. Sopranistin Mojca Erdmann als Marquise de Merteuil steht in einem fast leeren Raum, während Bariton Thomas Oliemans als Vicomte de Valmont noch ruhend auf dem Boden liegt. Regisseurin Barbara Wysocka hat sich für eine Endzeitstimmung entschieden (Heiner Müller gibt als Spielort entweder einen Salon im alten Frankreich oder einen Bunker nach dem dritten Weltkrieg an).
Nach verhaltenem Anfang kommt der mächtige Sopran von Mojca Erdmann so richtig zum Tragen. Sie beherrscht die Szene und ihr Partner (auch mit deutlich weniger Partitur) wird zum Mitspieler degradiert. Die Musik von Luca Francesconi ist klanglich eine Mischung aus Schönberg und Strauss. Nicht atonal, aber auch nicht unbedingt harmonisch. Aber wie ich finde eine sehr gute Mischung.
Gerade die Gesangspartitur der Merteuil gibt einer Sängerin viel Gelegenheit ihre Qualitäten auszuspielen. Mojca Erdmann nutzt dies vortrefflich.
Auch passt ihr attraktives Äußeres hervorragend zu der sexuell aufgeladenen Stimmung. Spiel und Gesang sind auf höchstem Niveau.
Selbst in der Szene, als sie sich einen Gummipenis umschnallt, um den sexsüchtigen Valmont darzustellen, bleibt sie cool und selbstbeherrscht.
Ein Wort noch zur Technik: Die Musik kommt teilweise live von der Staatskapelle, dirigiert von Daniel Barenboim, teilweise aber auch aus Lautsprechern, die überall im Raum verteilt sind. Das Orchester und der Chor der Mailänder Scala haben hier zusätzlich die Partitur eingespielt, die jetzt per Computer während der Vorstellung hinzugefügt wird.
Einen großen Sinn kann ich darin nicht finden, da der Zuschauer dies kaum bemerkt. Außer, wenn er Mojcas Lippen beobachtet, die manchmal stumm sind, während ihre Stimme zu hören ist.
Fazit: Ein großartiges Werk großartig interpretiert. Mit einer herausragenden Mojca Erdmann. Ein großes Bravo auch für alle Mitwirkenden. Ein Ereignis.
„Das Leben wird schneller, wenn das Sterben ein Schauspiel wird“, Heiner Müller
„Quartett“ von Luca Francesconi nach Heiner Müller
Staatsoper Unter den Linden
Premiere war am 3. Oktober 2020
Es spielt die Staatskappelle unter dem Dirigat von Daniel Barenboim
Mit: Mojca Erdmann (Marquise de Merteuil), Thomas Oliemans (Vicomte de Valmont), Ségolène Bresser (ein Kind), Francesca Ciaffoni (Tanz und Performance)
Nächste Vorstellungen: 8., 10. und 18. Oktober 2020
Unsere Bilderserie mit 20 Fotos der wichtigsten Szenen:
Author: Holger Jacobs
Founder & Editorial Director of kultur24.berlin ug.
Founder & Editorial Director of kultur24 TV on Youtube.
Former correspondent for fashion in Paris.
Photographer, writer and filmmaker.