Unsere Bücher Tipps im Juni 2021

Die Bücher Tipps im Juni 2021 © kultur24.berlin

Unsere Bücher Tipps im Juni 2021

 

Von Jörg Braunsdorf

15.06.2021

„Terminal“, Kai Hensel, Unions Verlag

Sonntagmorgen, eine Kanne Kaffee, 279 Seiten, am Mittag ist die Kanne leer und das Buch gelesen.
Schon einmal überzeugend!
Kai Hensel erzählt schnörkellos, mixt Fiktion und Realität zu einer spannenden Berlin-Story.
Die Rahmenhandlung: Eine junge Frau kommt nach Berlin um Geld zur Finanzierung eines Abenteuers zu verdienen, wird Chauffeurin eines einflußreichen Berliners und lernt den zerstörerischen Rhytmus Berlins kennen.
Es ist der BER, dieser Fluhafen, der scheinbar ein Geheimnis birgt.
Letzlich sei er aber nur Symbol für einen Neoliberalismus, der Bewegung aus Angst bedeute, so ein Soziologe im Romaninterview (S. 80).
Es sind Großprojekte die, einmal begonnen, fertiggestellt werden müssen und danach weiß man – falsch.
Oder wie die überschätzte Kanzlerin weiß, es ist alles Alternativlos.
Hensel attestiert dem BER, er sauge die Liebe aus der Stadt. Die Lektüre dieser Kriminalgeschichte des Alltags zeigt, es sind die urbanen Alpträume, die Berlin überfordern, die Städte überfordern, man muß nur hinschauen.
Was folgt?
Vielleicht sind es Aktivisten, die eine Autobahn blockieren oder die Deutsche Wohnen enteignen wollen, um auf seelenlose Projekte und Realitäten hinzuweisen, zu mahnen.
Oder, wie Hensel zu Beginn des 5. Teils Ulrike Meinhof zitiert, „Protest ist, wenn ich sage, das oder das passt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, dass das, was mir nicht passt, nicht länger geschieht.“

„Terminal“ von Kai Hensel © Unions Verlag

 

„Der Name seiner Mutter“, Roberto Camurri, Kunstmann Verlag

Familien sind für viele Menschen die zentrale Zelle gemeinsamen Lebens.
Familienromane können Zeitgeschichte über mehrere Generationen erzählen, die prägenden Figuren verkörpern sie, spannend, nachvollziehbar, hautnah. Roberto Camurris Roman hingegen seziert den frühen Verlust der Mutter, den niemand in der Familie, weder der Ehemann, der kleine Sohn, noch die Großeltern verkraften können.
Die Abwesenheit der Mutter (wenige Monate nach der Geburt von Pietro verläßt sie die Familie) lastet Bleischwer auf dem Versuch, Normalität zu leben.
Die Suche nach Pietros Identität wird Zeitlebens von diesem Verlust geprägt sein. Als er selbst Vater wird, will er endlich wissen, wie es zu der Trennung kam.
Eine psychologisch-literarische Meisterleistung, eindringlich und fesselnd, flüssig, ohne Längen erzählt, auf den Punkt formuliert.

„Der Name der Mutter“ von Roberto Camurri © Kunstmann Verlag

 

„Ciros Versteck“, Roberto Andò, Folio Verlag

Roberto Andò ist Film- und Theaterregisseur und hat mit Größen wie Federico Fellini, Francesco Rosi, Francis Ford Coppola zusammengearbeitet.
Er wurde von Leonardo Sciascia zum Schreiben angeregt.
Jetzt der Roman: „Ciros Versteck“.
Eine Strasse – ein Klavierlehrer- ein Junge – Neapel – Die Camorra.
Gabriele Santoro lebt für die Musik und die Poesie, schätzt seine Strasse, die täglichen Routinen, das Gespräch mit dem Zeitschriftenverkäufer, sein stilles Leben.
Plötzlich steht Ciro, Sohn eines Camorra-Mitglieds in seiner Wohnung, ein Moment und eine folgende Entscheidung, die sein Leben verändern wird.
Andò erzählt die Geschichte des faszinierend-widersprüchlichen Neapel, erzählt die Geheimnisse einer Stadt in der die Hunde das Sagen haben (S. 81). Signore Santoro erkennt seine Stadt in Sätzen der Romane, die sie beschrieben haben und der Autor zitiert aus Anna Maria Orteses „Neapel liegt nicht am Meer“, das Neapel eine Stadt der Toten sei, die nicht wissen, dass sie tot sind.
Es ist die Mischung aus Spannung und Düsternis, die die Stimmung des Romans prägt und sich in der Schicksalgemeinschaft des verzweifelten Jungen und seines Beschützers widerspiegelt.

„Ciros Versteck“ von Roberto Andò © Folio Verlag

 

„Die Tsantsa-Memoiren“, Jan Koneffke, Galiani Verlag

575 Seiten Magischer Realismus, ein fabulöser Abenteuerroman, eine Geschichte der Welt, die uns im Jahr 1780 von Südamerika/Caracas über Rom nach Deutschland, Großbritannien, Bukarest, Österreich führt.
Berlin, Pommern, London, Cambridge, Paris, Wien, Bukarest, Frankfurt sind  u.a. Stationen der 240-jährigen Geschichte eines Schrumpfkopfes und dessen Menschwerdung.
Der Roman endet im Jahr 2020.
Im 1. Kapitel provoziert ein schreckliches Ereignis den ersten Laut aus des Schrumpfkopfs Mund, der Beginn einer wundersamen Reise, gleichzeitig eine Geschichte der Revolutionen, Handelskonflikte, reisender Schausteller, Forscher, Antisemitismus, Kriege, psychoanalytischer Prozesse, bis hin zum Kalten Krieg und dem schließlichen Mauerfall.
Vor allem aber ist es eine Geschichte des europäischen Kolonialismus, die darin gipfelt, daß der Schrumpfkopf im 17. Jahrhundert als weißer Eroberer Ursache und folgend Opfer seiner eigenen Taten wurde.
Die aktuelle Debatte um das Humboldt-Forum, die Ausstellungen gestohlener Exponate in den großen Museen der Welt, die Selbstverständlichkeiten kolonialer Macht- und Besitzansprüche. All das spiegelt sich in dieser turbulenten Erzählung wieder.
Im hinteren Teil des Buches, auf Seite 536, schlußfolgert ein kritischer Tsantsa-Forscher:
„… Tsantsas haben sich erst mit dem Kolonialismus bei uns in Europa zur Mode entwickelt … und wir alle, die in einer Mischung aus Grauen und Lust einen Schrumpfkopf betrachten, betrachten in Wahrheit uns selbst. Auch wenn sie aus einer fremdem Kultur stammen, … sind diese Fratzen nichts anderes als ein barbarischer Spiegel der westlichen Welt.“

„Die Tsantsa Memoiren“ von Jan Koneffke © Galvani Verlag

 

„Frostmond“, Frauke Buchholz, Pendragon Verlag

In diesen Tagen berichteten die Medien über den Fund eines Massengrabes in einem katholischen Internat in Kanada.
Die Opfer, First-Nation-Kinder.
Die kanadische Regierung wird nun weitere Einrichtungen, in denen indigene Kinder umerzogen werden sollten, untersuchen. So weit so schlecht ist dies nicht der Inhalt eines Romans, sondern triste Realität.
Die Autorin Frauke Buchholz, die einige Zeit in einem Cree-Reservat in Kanada gelebt hat, erzählt in dem Kriminalroman Frostmond von verschwundenen jungen Frauen indigener Herkunft entlang des Transcanada-Highways.
Dies ist nun eine fiktionale Erzählung, so realistisch beschrieben, dass es triste Realtität sein könnte.
Der Thriller, so nah an der Realität geschrieben, beschreibt glasklar, weshalb Polizisten, Sozialarbeiter oder Verwaltungsbeauftragte hilflos in Parraleluniversen agieren.
Die Konflikte über lange Zeiträume, in denen Traditionen und Rechte der indigenen Bevölkerung zerstört wurden und die gesellschaftlichen Spannungen im heutigen Kanada werden in diesem Debutroman spannend erzählt.

„Frostmond“ von Frauke Buchholz © Pendragon Verlag

Unsere Bücher Tipps hat wie immer Jörg Braunsdorf geschrieben, Inhaber der Tucholsky Buchhandlung in Berlin-Mitte.

Tucholsky Buchhandlung
4-maliger Gewinner des Deutschen Buchandlungspreises
Inhaber: Jörg Braunsdorf
Tucholskystrasse 47
10117 Berlin
Tel. 030 275 77 663
kurt@buchhandlung-tucholsky.de

Author: Jörg Braunsdorf

Jörg Braunsdorf ist Inhaber der 2010 gegründeten Tucholsky-Buchhandlung in der Tucholskystraße 47 in Berlin-Mitte.
Auszeichnungen: 4-maliger Gewinner des Deutschen Buchhandlungspreises, zuletzt für das Jahr 2020

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