Unsere Bücher Tipps im September 2021

Die Bücher Tipps im September © kultur24.berlin

Unsere Bücher Tipps im September 2021

 

Von Jörg Braunsdorf

Tucholsky Buchhandlung

08.07.2021

Jörg Braunsdorf ist Inhaber der Tucholsky Buchhandlung in Berlin (Anm. d. Red.)

Vater und ich, Dilek Güngör, Verbrecher Verlag
Die Journalistin und Autorin Dilek Güngör und der Verbrecher Verlag. Hier haben sich zwei gefunden, die zusammengehören! Der Verlag, literarisch und politisch auf der Höhe identitätsdefinierender Bücher, frei von Klischees und Kitsch. Die Autorin hat nun nach dem Roman „Ich bin Özlem“, ihren neuen Roman „Vater und Ich“ im Verbrecher Verlag verlegt. Güngör erzählt von einem Besuch der erwachsenen Tochter beim Vater, die Mutter weilt außerhalb. Was geht noch zwischen beiden? Erinnern an kuschelige Vater-Tochter-Momente aus der Kindheit? Können Erwachsene Intimität zulassen? Die kleinen Situationen, in der Küche, beim Speisen, beim Besuch eines Freundes, großartige Miniaturen, wertvolle singuläre Sätze, kleine Absätze voller Sensibilität und emotionaler Wucht. Güngör hat einen kleinen Roman von 112 Seiten geschrieben, jede weitere Seite wäre überflüssig. Perfekte Konzentration und gleichwohl humorvoll zu lesen.
Was will man mehr?

Vater und ich - Dilek Güngör - Verbrecher Verlag

„Vater und ich“ – Dilek Güngör – Verbrecher Verlag

 

Das Stockholm-Syndrom und der sadomasochistische Geist des Kapitalismus, Jörg-Uwe Albig, Klett-Cotta Verlag
Eine Groteske! Ein politischer Roman! Ein Wagnis! Gelungen! Business-Coachin Katrin Perger hat beruflichen Erfolg. Ihre wissenschaftliche Abschlussarbeit (Titel des Buches) ist fragmentarisch im Internet abrufbar. Nun wird sie von einem Unternehmen namens Human Solutions, dessen Geschäftsmodell auf Entführungen beruht, engagiert, dieses weiterzuentwickeln und auszubauen. Perger wird die Ansprechpartnerin einer Geisel, ein apokalyptisches Unterfangen.
Autor Albig treibt ein literarisches Spiel mit den Spielarten eines teuflischen Kapitalismus, zwischen den Zeilen und mittels zweier Erzählebenen. Reale Handlung und Passagenauszüge der Abschlußarbeit treiben die Groteske auf die Spitze. Die Geisel identifiziert, ja kollaboriert mit den Geiselnehmern, ein Spiegelbild der Realität der Menschen, das perfekte Arrangement des Individuums im Neoliberalismus, sinnentleert, abhängig, ergeben.
Was folgt?

Das Stockholm-Syndrom...- Jörg-Uwe Albig - Klett-Cotta-Verlag

„Das Stockholm-Syndrom…“ – Jörg-Uwe Albig – Klett-Cotta-Verlag

 

Wo der Wolf lauert, Ayelet Gundar-Goshen, Kein & Aber Verlag
Ein Familienroman, eine psychologische Bestandsaufnahme extremer Alltäglichkeit, ein Spiegelbild hilfloser Elternliebe, eine Kriminalgeschichte, deren Kriminalität sich aus der Wirklichkeit entwickelt.
Lilach Schuster lebt mit ihrer Familie im Silicon Valley, fern der immer präsenten Bedrohung in Israel. Aber immer konfrontiert mit der Realität in der Heimat, durch die Familie. Und dann stirbt ein Klassenkamerad ihres Sohnes und erschüttert die scheinbare Sicherheit. Nicht kollektiv, sondern individuell. Gundar-Goshen ist eine junge israelische Autorin, die einen glasklaren Blick auf persönliche Extremsituationen verarbeitet.
In einer literarischen Leichtigkeit, die keinen Raum für Frustration zulässt. Ihr Debütroman „Eine Nacht, Markowitz“, hat mich schon derart verblüfft, mir die Frage gestellt, wie Gundar-Goshen mittels zweier schräger Männertypen, die Gründungsgeschichte des Staates Israels erzählt und das Lachen nicht im Halse steckenbleibt.
Hochachtung vor dieser Klasse! 

Wo der Wolf lauert – Ayelet Gunnar-Goshen – Klein & Aber Verlag

 

Häsin in der Grube, Mireille Gagné, Wagenbach Verlag
Die kanadische Autorin Mireille Gagné hat einen Roman geschrieben, der mit dem Mittel der Poesie die Perversion einer ungezügelten Leistungs- und Entfremdungsrealität erzählt.
Die Protagonistin, Diane, will ihre Leistungen perfektionieren. Perfekter bei der Arbeit, perfekten Sex, perfekte Leistungsbilanzen, wenig Schlaf, hohe Effektivität. Die fantastische Idee ist, sich das Genom eines Schneeschuhhasen einpflanzen zu lassen, um dessen Talente zu adaptieren. Die Lebenstalente des Schneeschuhhasen sind vielfältig, individuell und situationsbedingt und überraschend. Nach der Operation realisiert Diane, körperliche Veränderungen, euphorische Momente und bald auch Erinnerungen an damals.
Die Dramatik, in der uns heute die Leistungsgesellschaft als individuell zu lösende Aufgabe übergestülpt wird, erzählt Mireille Gagné in einer klugen kurzen Parabel.

Häsin in der Grube - Mireille Gagné - Wagenbach Verlag

„Häsin in der Grube“ – Mireille Gagné – Wagenbach Verlag

 

Besichtigung eines Unglücks, Gert Loschütz, Schöffling & Co. Verlag
Dezember 1939, vor dem Bahnhof von Genthin in Sachsen-Anhalt ereignet sich eines der schwersten Zugunglücke der deutschen Eisenbahngeschichte. Autor Gert Loschütz erzählt vor dem Hintergrund des realen Unglücks eine Geschichte die von der ersten Seite an fesselt.
Der Schöffling Verlag hatte mich gebeten das Manuskript vorab zu lesen. Das mag ich nicht, ich warte lieber auf das gedruckte Buch. Was für ein Glück hier eine Ausnahme gemacht und so des Schriftstellers Roman vorab gelesen zu haben, der die Realität und die Fiktion, die Zeitgeschichte, die Stimmung im nationalsozialistischen Deutschland und die Verzweiflung und die Zerrissenheit (oder auch Chuzpe) der einzelnen Personen so perfekt und spannend abbildet.
Aus einem Zugunglück wird ein Kriminalfall:
Detailtreue Alltäglichkeit und eine aufregende Ermittlung im NS-Milieu, perfekt austariert, in wohltuend realistischem Tempo, mit passender Sprache und stimmungsvoll erzählt.
Eine Spurensuche im deutschen 20. Jahrhundert nach persönlichen Verantwortlichkeiten und kollektiver Schuld.

Besichtigung eines Unglücks - Gert Loschütz - Schöffling & Co Verlag

„Besichtigung eines Unglücks“ – Gert Loschütz – Schöffling & Co Verlag

 

Tucholsky Buchhandlung
4-maliger Gewinner des Deutschen Buchandlungspreises
Inhaber: Jörg Braunsdorf
Tucholskystrasse 47
10117 Berlin
Tel. 030 275 77 663
kurt@buchhandlung-tucholsky.de

 

 

Author: Jörg Braunsdorf

Jörg Braunsdorf ist Inhaber der 2010 gegründeten Tucholsky-Buchhandlung in der Tucholskystraße 47 in Berlin-Mitte.
Auszeichnungen: 4-maliger Gewinner des Deutschen Buchhandlungspreises, zuletzt für das Jahr 2020

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