120 Tage von Sodom – Volksbühne Berlin
Wertung: 🙂 🙂 🙂 (drei von fünf möglichen)
Von Holger Jacobs
28.95.2015
Ein Theaterstück nach dem gleichnamigen Film von Pier Paolo Pasolini
Um es gleich vorne weg zu sagen: Ich habe weder das Buch gelesen noch den gleichnamigen Film von Pier Paolo Pasolini gesehen.
Nichtsdestotrotz ist Marquis de Sade ein Name, der wohl fast jedem ein Begriff ist.
Leise Schauer laufen einem beim Gedanken an dieses Oeuvre den Rücken hinunter.
Auch die Begriffe „Sadist“ oder schlichtweg „Sado-Maso“ weiß jeder zuzuordnen. Besonders als Jugendlicher gerne benutzt, um sich damit in einer Herrenrunde mit zotigen Witzen hervorzutun oder in Begleitung von Damen sich als etwas pervertierter Liebhaber interessant zu machen.
Hintergrund
Marquis de Sade wurde 1740 in Paris geboren und entstammte einer wohlhabenden, aristokratischen Familie. Durch eine günstige Heirat hatte er so viele finanzielle Mittel zur Verfügung, dass er nicht selber arbeiten musste und sich, neben einigen schriftstellerischen Tätigkeiten, fortan nur dem Genuss hingeben konnte. Diese wurden dann aber so ausschweifend, dass es zu mehreren Anzeigen von Frauen kam, die von Entführung, Auspeitschen, Vergewaltigung und Analverkehr berichteten.
Die Anklage einer Prostituierten aus Marseille wegen Analsex führte dann auch 1772 zur ersten Verurteilung zum Tode, dem er sich nur durch eine Flucht nach Italien entziehen konnte.
Bei seiner Rückkehr 1977 wurde er sofort verhaftet und landete nach mehreren Verlegungen schließlich im berühmten Gefängnis der Bastille.
Hier schrieb er auf einer Schriftrolle heimlich die „Les 120 Journées de Sodome ou l’ Ecole du Libertinage“, die wohl die Quintessence aller sexuellen und anderer Grausamkeiten darstellt, die er in seinen Fantasien bis zu diesem Zeitpunkt seines Lebens entwickelt hatte.
Kurz vor dem Sturm auf die Bastille, am 14. Juli 1789, wurde er allerdings in eine Irrenanstalt verlegt, die Manuskripte galten als verschollen.
Viele Jahre später tauchten sie wieder auf und wurden erstmalig 1904 ausgerechnet in Deutschland gedruckt. Heute wird der Text bei Matthes & Seitz aus Berlin verlegt.
Handlung
Vier „noble“ Herren gehen zusammen mit ihren vier Töchtern und 16 weiteren männlichen und weiblichen Jugendlichen, sowie diversen Bediensteten und Hauspersonal in ein Schloss. Kaum angekommen, verschließen sie das Anwesen und zwingen sowohl ihre Töchter wie auch die mitgereisten anderen Jugendlichen zu allen möglichen Sexualpraktiken und Perversionen. Die einzelnen Handlungsabschnitte sind in sog. „Passionen“ unterteilt mit Steigerung der Grausamkeiten bis zum Tod.
Nach diesen 120 Tagen leben von den ursprünglich 46 Personen im Schloss neben den vier Herren nur noch eine Tochter und 10 Mann des Personals.
Das Theaterstück
Wie der Wunsch zustande kam, in der Volksbühne daraus ein Theaterstück zu machen, kann ich nur vermuten.
Am 2. November diesen Jahres jährt sich zum 40. Mal die Ermordung des Filmemachers Pasolini, der den Film „Die 120 Tage von Sodom“ im Jahr seines Todes 1975 fertig stellte. Dieser Film ist sicherlich ebenso berühmt geworden wie das Buch selber, wurde doch vielerorts die Aufführung verboten. Zusammen mit einem Aufschrei der Kirche war der Film Mitte der siebziger Jahre ein großer Skandal.
Der österreichische Regisseure Johann Kresnik hat aus dem Ur-Text von Marquis de Sade zusammen mit dem Künstler Gottfried Helnwein und dem Schriftsteller Christoph Klimke eine Bühnenfassung erarbeitet.
Kaum das man den Theatersaal betritt fällt einem die bis zur Decke der Bühne gehende Dekoration in Form einer Supermarkt-Warenauslage auf. Hochragende Regale mit allerlei Konsumgütern stapeln sich links und rechts meterhoch.
Und der Abend fängt vergnüglich an: Süße Mädels in Fantasiekostümen tanzen nach modernen Rhythmen, ein Breakdancer gibt sein Bestes und überall herrscht Heiterkeit, die je unterbrochen wird, als vier Herren in Begleitung von schwarz angemalten, nackten Schergen den Raum betreten und mit einer Maschinenpistole erst einmal die Hälfte aller Anwesenden tötet.
Kaum dass sich die Übriggebliebenen von dem ersten Schock erholt haben, werden sie unter dem Bühnenboden eingekerkert. Während der nun verbleibenden 1 ½ Stunden Spieldauer werden immer Einzelne oder auch Gruppen herausgeholt, um irgendwelche sexuellen Perversitäten mit den Herren zu treiben. Bei den Herren handelt es sich um den Abgeordneten Blangis (Roland Renner), Richter Durcet (Helmut Zhuber), Bankier Curval (Enrico Spohn), dem Bischof (Hannes Fischer) und einem Offizier namens George (Ismael Ivo).
Weiterhin gibt es in diesem Spiel zwei ältere Huren ( Ilse Ritter und Inka Löwendorf), die auch als Erzählerinnen auftreten, eine Sängerin (Sarah Behrendt), sowie zahlreiches Personal, die die Aufräumarbeiten nach den Orgien besorgen oder auch mal Leichenteile wegschaffen.
Während dieser Gelage und Ausschweifungen, wobei sich das Führungspersonal bei den Perversitäten gegenseitig auch nicht schont, werden von jedem ständig irgendwelche kapitalistischen und verbrecherischen Parolen geschwungen.
Johann Kresnik verlegt das Geschehen in die heutige Zeit, wobei er die Grausamkeiten der Protagonisten auf der Bühne mit den Handlungen internationaler Großkonzerne und Banken vergleicht. Ob genmanipuliertes Gemüse, Umweltverschmutzung, Abrodung der Wälder, der Finanzskandal der Banken 2008 und der massive Verkauf von Waffen an jeden, der dafür in der Welt das entsprechende Geld bietet – nichts bleibt bei Kresnik unerwähnt.
Die „noblen“ Herren prahlen mit all diesen Wirtschafts-und Umweltverbrechen und erzählen, welches Vergnügen Ihnen diese Missetaten bereitet haben – und dies, während sie gleichzeitig die hier anwesenden Sklaven zu Tote foltern.
Das wirkt ganz schön stark, manchmal aber auch etwas aufgesetzt. Wie bei allen Statements gilt: Sprichst Du sie zu oft, nutzen sie sich ab. Was Kresnik versucht, hat man in anderer Form schon allzu oft gesehen, vielleicht noch nicht in dieser Kombination.
Trotzdem muss allen Beteiligten, besonders den Darstellern, ein großes Lob ausgesprochen werden. Man sieht, welche Kraftanstrengungen nötig sind, dieses Geschehen auf die Bühne zu bringen. Sich nackt auszuziehen und sich vor großer Zuschauerzahl quälen und foltern zu lassen, fällt sicher auch dem abgebrühtesten Schauspielern nicht leicht.
Die Bühne von Gottfried Helnwein mit den großen Regalen ist beeindruckend und was die Maskenbildner hier leisten, kann ich nur vermuten: eine Mammutaufgabe angesichts der bis zur Unkenntlichkeit angemalten und blutverschmierten Akteure.
Die Volksbühne hat eine große Aufgabe gestemmt und dazu muss man ihr gratulieren. Ob man sich das Stück ansehen möchte, muss jeder für sich alleine entscheiden, Personen unter 18 Jahren ist der Zugang ohnehin untersagt – zu Recht.
Es wird interessant zu beobachten sein, ob aus dem Stück ein Hype wird oder die übersättigte Berliner Theatergemeinde schnell wieder zur Tagesordnung übergeht…
Die Premiere an der Volksbühne Berlin war gestern Abend am 27. Mai 2015.
English text
120 Days of Sodom – Volksbühne Berlin
Rating: (three out of five possible)
By Holger Jacobs
05/28/2015. To put it straight away: I have not read the book or seen the film of the same name by Pier Paolo Pasolini.
Nevertheless, Marquis de Sade is a name that almost everyone is familiar with. Soft shivers run down your spine at the thought of this oeuvre. Everyone also knows the terms “sadist” or simply “sado-maso”. Especially used as a teenager, to stand out in a men’s group with shaggy jokes or to be interesting when accompanied by women as a somewhat perverted lover.
Background
Marquis de Sade was born in Paris in 1740 and came from a wealthy, aristocratic family. Thanks to a marriage with a rich lady, he had so much financial resources that he did not have to work himself and, apart from some writing activities, could only indulge in enjoyment. However, these became so extravagant that there were several reports of women reporting kidnapping, flogging, rape and anal sex.
The charge of the latter offense (the anal sex) of a prostitute from Marseille then led to the first sentencing to death in 1772, which he could only escape by fleeing to Italy.
When he returned to Paris in 1977, he was immediately arrested and, after several transfers, ended up in the famous Bastille prison. Here he secretly wrote on a scroll of toilet paper the „Les 120 Journées de Sodome ou l’ Ecole du Libertinage“, which is probably the quintessence of all sexual and other atrocities that he had developed in his fantasies up to this point in his life. Shortly before the storm on the Bastille, on July 14, 1789, he was transferred to an asylum, the manuscripts were considered lost. They reappeared many years later and were first printed in Germany in 1904.
Today the text is published by Matthes & Seitz from Berlin.
Plot:
Four “noble” gentlemen go to a castle with their four daughters and 16 other male and female young people, as well as various servants and house staff.
As soon as they arrive, they lock the property and force both their daughters and the other young people who have traveled with them to do all kinds of sexual practices and perversions. The individual stages of the action are divided into so-called “passions” with an increase in cruelty to death. After these 120 days, of the originally 46 people in the castle, in addition to the four gentlemen, one daughter and 10 men of the staff are still alive.
The play
How the idea came to turn this story into a play in the Volksbühne, I can not say, just make assumptions about it.
On November 2nd this year marks the 40th anniversary of the murder of the filmmaker Pasolini, who completed the film „The 120 Days of Sodom“ in the year of his death.
This film has certainly become as famous as the book itself, since the performance has been banned in many places. Along with an outcry from the church, the film was a major scandal in the mid-1970s.
The Austrian director and Choreographer Johann Kresnik developed a stage version from the original text by Marquis de Sade together with the artist Gottfried Helnwein and the writer Christoph Klimke. As soon as you enter the theater hall, you notice the decoration in the form of a supermarket display that goes up to the ceiling of the stage. Towering shelves with all sorts of consumer goods are stacked meters high on the left and right.
And the evening begins amusingly:
Sweet girls in fancy costumes dance according to modern rhythms, a breakdancer does his best and there is serenity everywhere, which is interrupted when four men enter the room accompanied by minions painted black on bare skin and with a machine gun first kill half of everyone present.
Hardly that the leftover have recovered from the first shock, they are incarcerated under the stage floor.
During the remaining 1½ hours of play, individuals or groups are always brought out to do any sexual perversion with the men.
These are the deputies Blangis (Roland Renner), judge Durcet (Helmut Zhuber), banker Curval (Enrico Spohn), the bishop (Hannes Fischer) and an officer named George (Ismael Ivo).
In this game there are also 2 older whores (Ilse Ritter and Inka Löwendorf), who also act as narrators, a singer Sarah Behrendt), as well as numerous staff who take care of cleaning up after the orgies or sometimes remove body parts.
During these feasts and debauchery, whereby the management personnel are not sparing each other in the case of perversities, everybody keeps swinging capitalist and criminal slogans.
Johann Kresnik shifts events to the present day, comparing the cruelty of the protagonists on stage with the actions of large international corporations and banks. Whether genetically manipulated vegetables, pollution, deforestation of the forests, the financial scandal of the banks in 2008 and the massive sale of weapons to everyone who offers the appropriate money in the world – nothing goes unmentioned at Kresnik.
The “noble” gentlemen brag about all these economic and environmental crimes and tell them about the pleasure these misdeeds have given them – and at the same time while torturing the slaves present here to the dead.
That looks pretty strong, but sometimes a bit fake. As with all statements, if you speak them too often, they will wear out. What Kresnik is trying to do has been seen too often in other forms, perhaps not in this combination.
Nevertheless, all participants, especially the actors, have to be praised. You can see the effort required to bring this happening onto the stage.
Undressing naked and being tortured and tortured in front of a large audience is certainly not easy for even the toughest actor.
Gottfried Helnwein’s stage with the large shelves is impressive and I can only guess what the make-up artists are doing here: a mammoth task in view of the actors, who have been painted beyond recognition and covered in blood.
The Volksbühne has tackled a major task and I have to congratulate it.
Everyone of the public has to decide for themselves whether they want to watch it or not. For people under the age of 18 the play is forbidden anyway – and rightly so.
It will be interesting to see whether the play becomes hype or whether the oversaturated Berlin theater community quickly returns to the agenda …
Premiere was the 27th of May, 2015.
Author: Holger Jacobs
Founder & Editorial Director of kultur24.berlin ug.
Founder & Editorial Director of kultur24 TV on Youtube.
Former correspondent for fashion in Paris.
Photographer, writer and filmmaker.