Aufzeichnungen aus dem Kellerloch von Dostojewski
Von Marty Sennewald
09.12.2021
Ein Monodrama im Neuen Haus des Berliner Ensembles
Oliver Kraushaar befindet sich in einer Zwangslage. Einen Fuß nach vorn gestellt (wie beim Gehen großer Schritte), der Aktenkoffer in seiner Hand von Fliehkräften in die Höhe geschaukelt: In dieser mitunter unangenehmen und angespannten Position (seine Knie fangen schon nach wenigen Minuten fürchterlich an zu zittern) hebt die Inszenierung an. Den gesamten ersten Teil des Romans wird Schauspieler Oliver Kraushaar in diesem festgestellten Zustand vortragen: „Ich bin ein kranker Mensch . . . Ich bin ein böser Mensch. Ein abstoßender Mensch bin ich.“, einzig vom monotonen Geräusch einer mechanischen Vorrichtung begleitet, die unaufhörlich Schneeflocken auf die Bühne gleiten lässt.
Die eigentümliche Situation des Protagonisten aus Dostojewskis Roman gleicht ebenfalls einer Zwangslage. Ein etwa 40-jähriger ehemaliger Beamter, der sich aller sozialen Banden entledigt in einem Sankt Petersburger Kellerloch wiederfindet und eine düstere Bilanz über sich, über die Menschen und die Zeit, in der er lebt, aufstellt. Der Roman ist im Winter 1863/ 64 entstanden. Dostojewski ist nach einem vermeintlichen Todesurteil in letzter Minute begnadigt und für Jahre in einem sibirischen Gefangenenlager interniert worden. Als er 1859 zurück nach Sankt Petersburg kommt, hatte die Welt sich verändert. Der Roman reagiert damit auf eine Zeit des Umbruchs. Der Zar war gestorben. Eine Welle der Liberalisierung überzieht das öffentliche Leben, die Leibeigenschaft wird abgeschafft, kapitalistische Produktionsweisen und Denkfiguren nehmen in der Gesellschaft Platz. Doch der Verwirklichung des kapitalistischen Traums stehen nur begrenzte Güter – Eigentum, Geld, Kapital – zur Verfügung. der Traum vom freien Leben kann nur von wenigen gelebt werden.
Der Roman handelt von denen, die außerhalb des Systems stehen, die nicht teilhaben und die an diesem Zustand des Ausgestoßen-seins zugrunde gehen. Obwohl die Fassung von Johannes Nölting sich eng an die Vorlage, die Übertragung von Swetlana Geier, hält, über lange Passagen hinweg wörtlich den Roman zitiert, so fügen sich die Momente, da er die Gegenwart in das Stück hineinzieht – Herrschaft der Algorithmen, Infragestellung des Kapitalismus, Kriegstreiberei im Nahen Osten – überraschend passgenau ein. Das funktioniert so gut, weil das Sujet nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Die gesellschaftliche Modernisierung, auf die Dostojewski mit seinen Aufzeichnungen reagiert – die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und kapitalistischer Produktionsweisen, die Entstehung des modernen Menschen – das ist die Welt, in deren Signaturen auch wir noch leben. Die im Roman zirkulierende Frage nach der Möglichkeit eines eigenen Willens inmitten einer Welt, die kalkulierend und berechnend uns jegliche Entscheidung abzunehmen droht: das ist eine drängende Frage auch unserer Tage. Und auch die im Roman aufgeworfene Frage nach dem Wert des Fortschritts ist eine aktuelle. Ist die Grausamkeit in der Welt tatsächlich weniger geworden? Oder haben wir nur aufgehört, wie es Oliver Kraushaar an einer Stelle sagt, nicht mehr dort zu scheißen wo wir essen?
Die Inszenierung treibt den Tonus von Kritik und Niedergeschlagenheit sukzessiv in die Höhe. Bald wird trunken geschrien, bald in rüpelhafter Manier die Hose heruntergelassen und dem Publikum ein sprechendes Arschloch präsentiert. Da blickt manch Augenpaar betreten zu Boden. Doch die Arbeit des jungen Regisseurs Max Lindemann – noch Schauspielregie-Student an der Ernst Busch Hochschule – schafft es, die mitunter beklemmenden Momente zu lösen und den Zuschauenden zuweilen gar ein Lächeln zu entlocken. Gelungen ist das wohl am besten, als Oliver Kraushaar die Hymne der Verzweiflung, Radioheads „Creep“, anstimmt.
Die Aufzeichnungen waren meine nunmehr zweite Dostojewski Inszenierung innerhalb weniger Wochen. Gerade erst sah ich den Idioten im Deutschen Theater. Doch unterschiedlicher hätten die Inszenierungen nicht sein können. Die absolute Dekonstruktion in einer an Castorf erinnernden Inszenierung des Idioten, die keinerlei Handlung zulässt und als monotones Assoziationsgewitter über Stunden die Bühne belagert, das alles ist hier in einer greifbareren Variante ausgeführt. Zwar ist auch hier Monologtheater zu sehen, doch der Versuch, die erzählerischen Teile des Romans bildhaft auszugestalten, gibt dem Stück ein Identifikationspotenzial, das dem Idioten abgegangen ist.
Jedenfalls schafft es die Inszenierung, mich nachdenklich zurückzulassen, als ich den Saal verlasse und zum Foyer schreite. Unten angekommen traue ich meinen Augen nicht. Es schneit noch immer. Nur diesmal nicht von der Bühnendecke, sondern draußen vor dem Eingang. Leichte Flocken gleiten dort zu Boden. Für einen Moment glaube ich, dass diese Spielerei noch zur Inszenierung gehört, man eine ähnliche Vorrichtung über der Tür angebracht hatte. Doch als ich nach draußen trete und in den Himmel schaue, da sehe ich: es schneit wirklich. Wie schön – denke ich – passender hätte man die Brücke nicht schlagen können. Dort die Welt auf der Bühne, hier die reale Welt, in der wir leben. Dort die Aufzeichnungen aus einem Kellerloch mit all den Problemen des 19. Jahrhunderts und hier die unsrige Welt samt ihren Problemen.
Und doch: Da ist etwas, das diese Welten verbindet, ein Moment, da man im Vergangenen das Heute sieht, ein Moment, der sich gleicht.
Hier eine Schneeflocke, wie sie sachte zu Boden eilt.
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch von Fjodor Dostojewski
Berliner Ensemble
Premiere war am 3. Dezember 2021
Mit: Oliver Kraushaar (geb. 1973, Hochschule für Musik und Theater in Hamburg)
Regie: Max Lindemann (geb. 1989, Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch)
Bühne: Katja Pech (geb. 1992, Kunsthochschule Berlin Weißensee)
Kostüm: Anneke Goertz (geb. 1884, Studium für Produktdesign in Krefeld)
Dramaturgie: Johannes Nölting (geb. 1989, Studium der Literaturwissenschaft an der Freien Universität in Berlin)
Bilderserie mit fünf Photos der Produktion:
Author: Marty Sennewald
Marty Sennewald promoviert zurzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin im Fach „vergleichende Literaturwissenschaft“.
Daneben ist er als freiberuflicher Schriftsteller und Musiker tätig, lebt und arbeitet in Berlin.