Unsere Bücher Tipps zu Weihnachten 2021
Von Jörg Braunsdorf
09.12.2021
(Jörg Braunsdorf von der TUCHOLSKY BUCHHANDLUNG in Berlin-Mitte gibt Euch die besten Bücher Tipps zum Verschenken an Weihnachten – oder zum Selber-lesen, Anm. d. Red.)
„Vier Fünf, Sechs“ Pieke Biermann, Argument Verlag
Den ersten Berlin-Roman der Autorin, „POTSDAMER ABLEBEN“, las ich im Jahr des Erscheinens, 1987. Meinem ersten Besuch Berlins 1985 setze er eine literarisch-kriminalistische Krone auf.
Meinem damaligen Buchhandelspublikum in einer mittelhessischen Kleinstadt konnte ich so, ohne viel erklären zu müssen, Berlin „in die Hand drücken“. Mittlerweile liegen 4 Bücher vor, die der ARGUMENT VERLAG auch in einem Schuber anbietet, Geschichten dieser schrillen, biederen, lebensfreudigen, maulfaulen, großspurigen, bankrotten, visionären, korrupten, radikalen Stadt. Eine Tetralogie, ähnlich genial, wie sie JEAN-CLAUDE IZZO in seiner, im Unionsverlag im Schuber vorliegenden MARSEILLE-TRILOGIE für seine Stadt verfasst hat.
Und nun ist auch „VIER FÜNF SECHS“ wieder lieferbar. Der Flughafen Tempelhof auf dem Cover, im Flughafen wird ein Berliner Polizeidirektor in die Luft gesprengt, 1994, Wahlkampf, Bauboom, Nachwendezeit, Ost-West-Realitäten, auch in der Truppe von Kommissarin Lietze.
Ein geheimnisvolles Männchen im weitverzweigten Tunnelsystem des Flughafens, Berliner Geschichte, NS-Zeit, Amerikaner und Rosinenbomber.
Der Mythos THF (Tempelhof) als Mikrokosmos der Stadt Berlin, eine Kriminal- und Kulturgeschichte Berlins par excellence, da bleibt kein Auge trocken, da wird Geschichte, Ursache und Wirklichkeit erzählt.
„Hotel Berlin“ Vicki Baum, Wagenbach Verlag
„MENSCHEN IM HOTEL“, verfasst 1929, ihr vielleicht berühmtester Roman über schicksalhafte Zufallsbegegnungen. Erstmals verfilmt mit Greta Garbo.
„HOTEL SHANGHAI“, 1949, neun Menschen aus aller Welt begegnen sich in einem Hotel. Geschrieben vor der Realität des chinesischen-japanischen Krieges, ein Furor gegen Krieg und Zerstörung.
„LIEBE UND TOD AUF BALI“, 1937. Monatelang lebte Baum dort und erzählt von einer intakten, ursprünglichen Gemeinschaft, brutal zerstört durch holländische Kolonisatoren.
Und nun zu dem in diesem Jahr wieder aufgelegten Roman „HOTEL BERLIN“, erstmals erschienen 1943, geschrieben in englischer Sprache.
Vicki Baum erzählt phrophetisch von dem, was kommen wird.
Der Roman spielt in den letzten Tagen des 2. Weltkrieges.
Nazis, die Schauspielerin Lisa Dorn, der Widerständler Martin Richter auf der Flucht vor der Gestapo, und andere Menschen leben, oder verstecken sich im Hotel.
Es ist ein emotionaler Unterhaltungsroman, ich habe ihn atemlos gelesen, denn das Genre Unterhaltungsliteratur kann es eben, unterhalten und erklären.
Vicki Baums Ausgangsfrage aus der Ferne – auch ihre Bücher wurden von den Nazis verbrannt, sie emigrierte 1931 in die USA – war:
„Wie sieht es jetzt in Deutschland aus? Was denken, fühlen, fürchten und hoffen die Deutschen in einem Augenblick, da schon die ganze Welt das Menetekel an der Wand lesen kann? … Was geht in meinem Grand Hotel vor? (aus der Einleitung).
Es ist faszinierend! Viele, viele Romane, werden (oft und leider) vergessen. Vicki Baums „einfache erzählende Bücher bleiben, erzählend, unterhaltend, warnend.
Entfernte Verwandte, Veit Heinichen, Piper Verlag
Der Autor lebt seit über 25 Jahren in Triest, der Stadt, die die multi-ethnische Realität im äußersten Südosten Italiens verkörpert.
Und seit 2002 lässt er in nunmehr 11 Bänden Commissario Proteo Laurenti ermitteln.
Es geht natürlich um Zeitgeschichten, Mordopfer, Partisanengeschichten, organisierte Kriminalität, Alt- und Neonazis, Korruption, Hafengeschichten und Bürokratiemonster.
Es geht aber auch um italienisches Familienleben, Leben auf der Piazza, in der Bar, phantastische mediterrane Speisen, es geht um Chuzpe und Mut in der Gestaltung eigener Lebensentwürfe, politisches und gesellschaftliches Bewusstsein und immer auch um einen Hauch Anarchie, ohne den Italien ärmer wäre.
Im neuesten Roman wird Laurenti mit einigen Morden konfrontiert, deren Indizien ihn in bis in die Zeit des italienischen Faschismus, bis zum Gründungsmythos des Staates Italiens nach dem 2. Weltkrieg führen werden. Spannend, unterhaltsam, klug!
Die Verfilmungen der Bücher für die ARD wurden nach einigen Jahren wegen mangelnden Erfolges eingestellt. Gut so, sie waren peinliche Auftragsarbeiten für den deutschen Markt, was leider häufiger mit europäischen Kriminalgeschichten geschieht, ausgerechnet meist von den öffentlich-rechtlichen Sendern ARD oder ZDF. Geeignet den Wert der Bücher dem schnöden Mammon zu opfern.
Stattdessen: Lesen!
„Wohl Bekam´s“ Tobias Roth, Tobias & Moritz Rauchhaus, (Hrsg.) Verlag: Das kulturelle Gedächtnis
Eine besondere Idee haben die beiden Herausgeber in dem Verlag mit einem so schönen und spannenden Namen in dieser Anthologie verwirklicht:
IN HUNDERT MENÜS DURCH DIE WELTGESCHICHTE.
Bei der Lektüre dachte ich an einen Scherz.
Aber ja, aber nein! Das Konzept scheint so einfach wir unspektakulär.
Der Anlass, das Datum, der Ort, der Hintergrund, die zeitgeschichtliche Einordnung – alles auf einer Seite.
Dann die Menüfolge, die Speisen. Es ist angerichtet. Zum sofortigen Verzehr geeignet. 818 Jahre, 1873 Gerichte, 336 Seiten, 772 Illustrationen.
Nach einigen Kostproben ist klar, dieser Gourmettempel ist informativer als so manche wissenschaftliche Abhandlung, allemal verdaulicher.
Obwohl, gilt dies auch für die Einweihung der neuen Residenz des Königs Assurnasirpal II, 879 v. Chr. in Nimrud?
72400 komplette Tiere, 10000 Eier, 1000 Laib Brot, 1000 Kisten Kräuter, 900 Körbe und Krüge Obst, Gewürze und Butter, 2200 Maß Beilagen, Öl, Salz, 190 Esellasten Gewürze, Nüsse, Nachspeisen, über 30000 Krüge, Schläuche, Töpfe und Schalen Bier, Wein, Honigwein und Mizu-Getränke für fast 70000 Gäste. Das Füllhorn kulinarischer Überraschungen dokumentiert u.a. auch:
– Das Festessen anlässlich Fidel Castros Besuch in der DDR am 02. April 1977.
– Lady Dianas letztes Abendessen am 31. August 1997 im Hotel Ritz in Paris.
– Barack Obamas letztes State Dinner am 18. Oktober 2016 im Weißen Haus. Voila, ein wunderschönes Geschenk!
„In Limbo“ mit Fotografien von Florian Bachmaier, herausgegeben von Thomas Gust und Ana Druga, Buchkunst Verlag Berlin
Ein Bildband, eine photographische Erzählung, eine politische Einmischung, eine Dokumentation der achtjährigen intensiven Auseinandersetzung des Münchner Photographen Florian Bachmeier mit der Wirklichkeit in der Ukraine. Mittels der japanischen Bindung ist das Buch eine lange Erzählung, oder auch eine Anthologie ineinanderfließender ziviler, persönlicher, gesellschaftlicher, militärischer, hoffnungsvoller, verzweifelter, mahnender oder fordernder Momentaufnahmen.
Sie beschreiben ein Land, in dem nach Jahren konfliktträchtiger Zuspitzungen ein Krieg herrscht, der tausende Menschenleben gefordert hat, dessen Ende nicht absehbar ist, dessen mögliche Konfliktlösung weder in einer innenpolitischen Perspektive, noch in einer glaubhaften Form internationaler Diplomatie sichtbar ist.
Dieser Bildband stellt sich unmissverständlich an die Seite der Menschen und dokumentiert das Versagen einer innenpolitischen Konfliktlösung und der internationalen Diplomatie, diesen Krieg beenden zu wollen.
Der kluge Essay von Kateryna Mishenko ergänzt die Zusammenstellung der Bilderzählung.
Jörg Braunsdorf
Tucholsky Buchhandlung
Tucholskystrasse 47
10117 Berlin-Mitte
Tel. 030 275 77 663
Author: Jörg Braunsdorf
Jörg Braunsdorf ist Inhaber der 2010 gegründeten Tucholsky-Buchhandlung in der Tucholskystraße 47 in Berlin-Mitte.
Auszeichnungen: 4-maliger Gewinner des Deutschen Buchhandlungspreises, zuletzt für das Jahr 2020