Neu im Kino – Anatomie eines Falls – Goldene Palme Cannes 2023

Anatomie d' und Chute © Les Films Peléas/ kultur24.berlin

Neu im Kino – Anatomie eines Falls – Goldene Palme Cannes 2023

 

Von Holger Jacobs

12.11.2023

Der Gewinner der Goldenen Palme beim Filmfestival in Cannes 2023

Wie ich schon in einem früheren Beitrag berichtete, war ich 2023 nach 30 Jahren mal wieder bei den Filmfestspielen von Cannes.
Dieses Mal allerdings hatte ich mich nicht als schreibender Journalist oder Photograph angemeldet, sondern als Kameramann in der Kategorie „Audiovisuell“, wozu Fernseh-Anstalten und andere digitale Medien gehören, die mit Bewegtbild arbeiten. Ich wurde damit für meinen Kulturkanal kultur24 TV auf Youtube eingeladen – der bis heute 21.000 Abonnenten zählt.

Filmfestival CANNES 2023, ph: Holger Jacobs

Sandra Hüller

Die deutsche Schauspielerin SANDRA HÜLLER ist spätestens seit ihrer Hauptrolle in „Toni Erdmann“ auch international bekannt. Dieser Film hatte seine Premiere beim Filmfestival in Cannes 2016 und wurde für die Oscar-Verleihung 2017 in der Kategorie bester fremdsprachlicher Film nominiert.

Sandra Hüller, Peter Simonischek, „Toni Erdmann“ © Komplizen Films

Bei den Filmfestspielen in Cannes 2023 war SANDRA HÜLLER sogar in zwei Wettbewerbsfilmen in einer Hauptrolle zu sehen:
In „The Zone of Interest“ von JONATHAN GLAZER als Ehefrau des Lagerkommandanten von Auschwitz (wurde in Cannes mit dem Großen Preis der Jury geehrt) und eben in „Anatomie d`une chute“ der Französin JUSTINE TRIET.

„The Zone of Interest“ © Bad Films

Anatomie d‘ une chute

Dieser wirklich interessante und zum Schluss auch spannende Spielfilm ist sowohl eine Kriminalgeschichte, als auch ein psychologisches Kammerspiel.

Es beginnt mit einer Szene in einem Chalet in den französischen Alpen.
Sandra Voyter (SANDRA HÜLLER) wird von einer jungen Journalistin wegen ihrer schriftstellerischen Erfolge interviewt. Währenddessen hört man laute Musik von oben, wo im Dachgeschoss Sandras Ehemann Samuel (Samuel Theis) mit Bauarbeiten beschäftigt ist. Irgendwann wird die Musik so laut, dass die beiden Frauen das Interview abbrechen müssen.

Die nächste Szene zeigt den gemeinsamen, elfjährigen Sohn Daniel (MILO MACHADO-GRANER), wie er von einem Spaziergang mit seinem Hund nach Hause kommt und seinen Vater Tod vor dem Haus findet. Dieser war offensichtlich bei seinen Dacharbeiten in die Tiefe gestürzt.
Der Film beschäftigt sich danach zwei Stunden mit der Frage, wie der Mann zu Tode kam: War es ein Unfall, war es Selbstmord oder wurde er durch seine Ehefrau Sandra in die Tiefe gestürzt.

Nach einigen Monaten polizeilicher Untersuchung wird Sandra schließlich wegen Mordes angeklagt und muss sich vor Gericht verteidigen.
Dabei wird der ganze Scherbenhaufen ihrer Ehe mit Samuel aufgearbeitet – und das alles in Anwesenheit ihres Sohnes Daniel, was dieser nur schwer verkraftet.
Am Schluss wird aber seine Aussage den Ausschlag geben, ob die Jury Sandra für schuldig erklärt oder nicht.

Filmplakat „Anatomie d‘ und Chute“

Kritik

Liest man die Geschichte muss man unweigerlich an einen „Tatort“-Krimi aus dem deutschen Fernsehen denken. Eine entsprechende gruselige Spannung wäre also zu erwarten gewesen. Dem ist aber keineswegs so.

Das Regisseurin JUSTINE TRIET keine Krimi-Autorin ist merkt man sofort.
Das ganze erste Drittel des Films, welches sich mit den polizeilichen Untersuchungen und den Vorbereitungen auf den Prozess beschäftigt, plätschert so etwas belanglos dahin. Plötzliche Wendungen oder Höhepunkte gibt es nicht. Auch SANDRA HÜLLER’s Spiel ist hier am Anfang erstaunlich teilnahmslos, als hätte sie zu der Rolle nur aus Freundschaft zur Regisseurin zugesagt und wäre eben mal kurz für ein paar Drehtage vorbeigekommen.

Zusätzlich haben mich auch ein paar Fakten gestört:
– Sohn Daniel sieht den Eltern Sandra und Samuel aber so überhaupt nicht ähnlich (siehe Bilderserie). Das das wirklich ihr gemeinsamer Sohn sein soll kann man sich beim besten Willen nicht vorstellen.
– Auch bei dem Sprachengewirr der Eheleute mit dem Sohn, Mutter Deutsche, Vater Franzose, stört mich ungemein, dass die Mutter mit Ihrem Mann English spricht, diese Sprache aber auch bei ihrem eigenen Kind benutzt, obwohl ihre Muttersprache Deutsch ist.
Ich habe in meinem 20-jährigen Aufenthalt in Frankreich viele Mischehen kennengelernt. Dabei kommt es häufig vor, dass die Kinder die Sprache des Landes vorziehen, in welchem sie Leben – in diesem Fall wäre das also Französisch. Und welches auch die Muttersprache des Vaters ist.
Das die eigene Mutter aber in einer dritten Sprache mit ihrem Kind spricht, also hier Englisch, halte ich für sehr unwahrscheinlich. Zumal das Kind der Mutter wiederum auf Französisch antwortet. Dadurch erscheint die Beziehung der Mutter zu ihrem Kind sehr distanziert. Aber vielleicht sollte das ja auch genauso gezeigt werden.

Doch sobald der Prozess und damit die Befragung der Beteiligten beginnt, hebt sich das Niveau des Films und auch das Spiel der SANDRA HÜLLER erheblich. Jetzt kommt nämlich das ganze Können der Regisseurin JUSTINE TRIET zum Tragen, die sich in ihren bisherigen vier Filmen hauptsächlich mit der Psychologie zwischen (Ehe-) Paaren beschäftigt.

In den Befragungen zur Vergangenheit der Beziehung zwischen Samuel und Sandra kommt heraus, dass der Sohn Daniel mit vier Jahren bei einem Autounfall die Hälfte seiner Sehfähigkeit verloren hat, was zu einem großen Zerwürfnis zwischen den Eheleuten führte. Denn am Tag des Unfalls sollte eigentlich der Vater das Kind vom Kindergarten abholen, vergaß aber den Termin. Schließlich nahm eine dritte Person das Kind mit und verunglückte dabei schwer. Somit ist dem Vater zwar nur bedingt eine Schuld zuzuweisen. Doch er gab sich damals die Hauptschuld und die Ehefrau wollte ihm das wohl auch nicht ausreden.

Weiterhin stellt sich heraus, dass beide Eheleute Schriftsteller sind, wobei sie deutlich mehr Erfolg hatte als er. Der Vater kümmerte sich daraufhin mehr um das Kind, was wiederum die Mutter dazu nutze, mehr in ihrer Arbeit aufzugehen.
Durch eine vom Vater heimlich aufgenommene Audio-Datei erfährt nun das Gericht, dass es am Vortag des tödlichen Unfalls zu einer furchtbaren Auseinandersetzung der Eheleute kam, bei der sich beide vorwarfen am Scheitern der Beziehung Schuld zu sein.
Er wolle mehr Zeit zum Schreiben haben, könne es aber nicht, weil er sich um den Sohn kümmern müsste, während sie nur an ihre Arbeit denken würde.
Und sie warf ihm vor, dass er als Schriftsteller versagt hätte und die Betreuung Daniels daraufhin von sich aus übernommen hätte.
Schließlich hört man auf dem Band, wie beide am Schluss gewalttätig werden und Gegenstände geworfen werden. Sandra gibt im Gerichtsaal zu, ihren Mann  geschlagen zu haben.

Das Interessante am Drehbuch ist, dass es JUSTINE TRIET schafft zu zeigen, wie eine Beziehung auseinanderdriftet, ohne dass man einer Seite die alleinige Schuld geben könnte. Letztlich sind beide für das Scheitern der Ehe zu gleichen Teilen verantwortlich, jeder auf seine Weise.

Aber die Frage bleibt:
Hat nun Sandra aus Wut am nächsten Tag ihren Mann aus dem Fenster geworfen, ihm vielleicht sogar vorher noch mit einem stumpfen Gegenstand den Kopf eingeschlagen (wie es die Autopsie vermuten lässt)? Wir werden es wohl nie erfahren.

Dann der letzte Prozesstag: Muss Sandra eine langjährige Gefängnisstrafe antreten oder wird sie freigesprochen?
Entscheidend ist dabei eine erneute Aussage ihres Sohnes Daniel in der letzten Minute.
Was er dabei sagt, verrate ich hier natürlich nicht.

Fazit: Gut gemachte psychologische Fallstudie einer Beziehung, die zum Scheitern verurteilt ist. Nur für Erwachsene.

Bilderserie mit 6 Fotos der Filmproduktion:

„Anatomie d‘ une Chute“, Regie: Justine Triet, © Les Films Peléas

Author: Holger Jacobs

Founder & Editorial Director of kultur24.berlin ug.
Founder & Editorial Director of kultur24 TV on Youtube.
Former correspondent for fashion in Paris.
Photographer, writer and filmmaker.

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