Premiere von Figaros Hochzeit in der Komischen Oper Berlin
Von Holger Jacobs
28.04.2024
Wertung đ đ đ đ (vier von fĂŒnf)
Viel Sex und nackte Haut bei der Premiere am Samstag Abend im Schillertheater
Die drei sogenannten âDa-Ponte-Opernâ, die der Librettist LORENZO DA PONTE (1749 â 1838) fĂŒr WOLFGANG AMADEUS MOZART schrieb, gelten heute als eine der wichtigsten der gesamten Opernliteratur.
Diese Opern von Da Ponte/ Mozart werden immer wieder neu interpretiert und kommen an allen groĂen OpernhĂ€usern dieser Welt zur AuffĂŒhrung.
HĂ€ufig wird auch der gesamte Zyklus, Ă€hnlich wie die vier Opern des âRing der Nibelungenâ von RICHARD WAGNER (geschrieben zwischen 1848 und 1874) nacheinander an einem Opernhaus inszeniert.
So geschehen in den letzten Jahren an der Staatsoper Berlin unter der musikalischen Leitung von DANIEL BARENBOIM und dem Patrice Chereau-SchĂŒler VINCENT HUGUES (kultur24 berichtete).
Nun soll dies auch an der Komischen Oper umgesetzt werden.
Die Regie dabei ĂŒbernimmt der russische Film- und Theaterregisseur KIRILL SEREBRENNIKOV.
Vor einem Jahr hatte SEREBRENNIKOV als erstes die Oper âCosi Fan Tutteâ zur Premiere (kultur24 berichtete) gefĂŒhrt, nun âLe nozze di Figaroâ und im nĂ€chsten Jahr voraussichtlich âDon Giovanniâ.
Kirill Serebrennikov
Allein seine Person wÀre schon ein ganzer Artikel Wert.
Der am 7. Sept. 1969 in Rostow am Don geborene KIRILL SEREBRENNIKOV ist auf jeden Fall ein kĂŒnstlerisches Ausnahmetalent.
Bereits als SchĂŒler inszenierte er TheaterauffĂŒhrungen, spĂ€ter wurde er Direktor eines Amateurtheaters in seiner Heimatstadt.
Ab 1998 lebte SEREBRENNIKOV in Moskau und inszenierte Theater, Oper und Ballett am Mariinsky – und Bolschoi-Theater.
Mitte der 2000er Jahre wurde er zu den Wiener Festwochen und zum Festival dâ Avignon eingeladen und als Regisseur von Spielfilmen zu den Filmfestivals nach Cannes und Locarno.
Auch dieses Jahr wird SEREBRENNIKOV in Cannes wieder mit einem neuen Film dabei sein. Titel: âLimonovâ.
Politische Brisanz bekam seine Person, als den konservativen Kulturbehörden in Moskau zu Ohren kam, dass SEREBRENNIKOV offen homosexuell ist und dies in seinen Inszenierungen auch hÀufig thematisiert.
2017 wurde er zum ersten Mal festgenommen und wegen absurder GrĂŒnde, Ă€hnlich wie bei politischen Oppositionellen, hinter Gittern gebracht.
Trotzdem konnte er aus der Untersuchungshaft heraus mehrere Inszenierungen im europĂ€ischen Ausland durch Video-Ăbertragungen realisieren.
So z.B. Mozarts âCosi Fan Tutteâ am ZĂŒricher Opernhaus 2018 (diese Inszenierung wurde im MĂ€rz 2023 von der Komischen Oper in Berlin ĂŒbernommen) und Wagners âParsifalâ in Wien 2019.
Im Jahre 2020 wurde er schlieĂlich zu sechs Jahren Lagerhaft verurteilt, was aber zur BewĂ€hrung mit Hausarrest umgewandelt wurde.
Auch aus dieser Situation heraus fĂŒhrte er an verschiedenen HĂ€usern per Video-Konferenz Regie. Z.B. bei âOutsideâ an der Berliner SchaubĂŒhne und bei Schostakowitschs âDie Naseâ an der Bayerischen Staatsoper 2021.
Im Januar 2022 konnte KIRILL SEREBRENNIKOV ĂŒberraschend aus Russland fliehen und lebt seitdem in Berlin.
Le nozze di Figaro (Figaros Hochzeit)
Dieses ursprĂŒnglich von dem Franzosen BEAUMARCHAIS im Jahre 1778 geschriebene TheaterstĂŒck wurde von DA PONTE fĂŒr WOLFGANG AMADEUS MOZART fĂŒr eine Oper adaptiert.
Die Komödie spielt am Hof des spanischen Grafen Almaviva um 1780.
Des Grafen Kammerdiener Figaro steht kurz vor der Hochzeit mit Susanna, der Kammerzofe der GrÀfin Almaviva.
Der Graf hatte zwar auf die damals ĂŒbliche âius primae noctisâ, dem Recht auf die erste Nacht mit der Braut eines seiner Bediensteten, verzichtet, ist aber dennoch völlig vernarrt in Susanna und möchte sie unbedingt fĂŒr sich gewinnen.
WÀhrenddessen hat der liebestolle Page Cherubino nichts Besseres zu tun, als jedes weibliche Wesen im Entourage des Grafen anzubaggern, selbst die GrÀfin und Susanna.
Als der Graf dies entdeckt, wird Cherubino zur Armee verbannt.
Figaro schmiedet einen Plan, um die AnnĂ€hrungsversuche des Grafen an seine Susanna zu vereiteln. Und die eifersĂŒchtige GrĂ€fin Almaviva sinnt auf Rache.
Hier mein Video auf kultur24 TV mit AuszĂŒgen aus dem 1. und 2. Akt;
Kritik
Ăhnlich wie in seiner Inszenierung von âCosi Fan Tutteâ teilt KIRILL SEREBRENNIKOV die BĂŒhne in eine obere und eine untere HĂ€lfte.
WĂ€hrend es sich in âCosi Fan Tutteâ lediglich um zwei Fitness-RĂ€ume handelt (unten trainieren die MĂ€nner, oben die Frauen), werden in âLe nozze di Figaroâ zwei verschiedene Welten gezeigt:
Oben die reiche Herrschaft in einem kĂŒhlem, nur mit Kunst bekleidetem Salon.
Unten die Dienerschaft in engen, mit viel GerĂŒmpel, Waschmaschinen und BĂŒgeltischen bestĂŒckten RĂ€umen.
Was SEREBRENNIKOVS Regie ausmacht ist die Schnelligkeit seiner Inszenierungen.
Hier geht alles Schlag auf Schlag.
Selbst wenn eine Person lange Arien singt, geschieht auf einer weiteren Ebene etwas anderes.
Oder er fĂŒgt eine zusĂ€tzliche Person in die Handlung ein.
SEREBRENNIKOVS besonderer Einfall fĂŒr âLe nozze di Figaroâ liegt in der Aufspaltung des Pagen Cherubino in eine Pantomime (toll âgespieltâ von dem russischen Film- und Theaterschauspieler Georgy Kudrenko) und einer SĂ€ngerin namens Cherubina (bravourös Susan Zarrabi).
Da die Rolle des Cherubino von Mozart sowieso fĂŒr eine Mezzosopran-SĂ€ngerin in einer Hosenrolle vorgesehen war, passt die Idee sehr gut.
WĂ€hrend also Cherubina wunderschöne Arien singt – tanzt, turnt und schmachtet Cherubino die Frauen an â mehr oder weniger bekleidet (siehe Fotoserie).
Die zweite gute Idee war die griechisch-stĂ€mmige PENNY SOFRONIADOU fĂŒr die Hauptpartie der Susanna zu besetzten.
Sie hat eine tolle, weitreichende Stimme, trotz ihres zierlichen Körperbaus. Dass sie auĂerdem ein attraktives ĂuĂeres hat kommt ihrer Gesamt-Performance nur zugute.
Seit 2022 gehört PENNY SOFRONIADOU zum Ensemble der Komischen Oper.
In âCosi Fan Tutteâ sang sie bereits die Fiordiligi.
PENNY SOFRONIADOU gewann 2023 den DAPHNE-Preis fĂŒr herausragende kĂŒnstlerische Darstellung im Berliner Kulturleben. Und 2018 gewann sie den Berlin Opera Prize im Bundeswettbewerb Gesang
Als Gegenpart zu Susanna ist auch TOMMASO BAREA als ihr BrĂ€utigam Figaro ein stattlich anzusehender Bass-Bariton mit langem Haar und italienischen Flair. Seine Stimme ist okay, aber nicht ĂŒberragend.
Besonders hervorheben sollte man noch HUBERT ZAPIOR als Graf Almaviva.
Ein schöner Bariton mit klangvoller Stimme.
Nach dem furiosen Beginn im 1. Akt und 2. Akt wird es nach der Pause etwas schwÀcher.
Nicht, dass auf der BĂŒhne nichts mehr passieren wĂŒrde.
Aber die Handlung gerĂ€t auĂer Kontrolle. Da taucht plötzlich ein gedungener Mörder auf, der die HochzeitsgĂ€ste ersticht. Und riesige Skulpturen in silbernem Chrom werden in das Loft der schicken Herrschaft getragen und fĂŒhren zu einem Durcheinander von Szenen und Personen.
Dazwischen die Arien des Figaro âTutte e Dispostoâ und Susanna âGiunse Alfin il momentoâ, die Langweile verbreiten, weil sie weder musikalisch noch dramaturgisch das StĂŒck weiterbringen.
Zum Schluss weis der Zuschauer nicht mehr wer – nun – wen ĂŒbers Ohr gehauen hat.
Ein allgemeines Chaos bricht aus.
Mein Nachbar meinte âOverdoneâ, was diesen Moment der Inszenierung ganz gut charakterisiert.
Ab und zu gibt es dann noch einen Handy-Klingelton vom Cembalo gespielt und manche der handelnden Personen fangen an zu telefonieren oder schreiben Textnachrichten.
Fazit: Eine rasante Opern-Komödie mit viel Erotik, Akrobatik, schönen Menschen und schönen Stimmen. Wenn sich KIRILL SEREBRENNIKOV im zweiten Teil etwas zurĂŒckgenommen hĂ€tte, wĂ€re es besser gewesen.
„Le Nozze di Figaro“ an der Komischen Oper Berlin
Premiere war am 27.04.2024
Musikalische Leitung: James Gaffigan
Inszenierung, BĂŒhnenbild und KostĂŒme: Kirill Serebrennikov
Graf Almaviva: Hubert Zapior
GrÀfin Almaviva (Rosina): Nadja Mchantaf
Susanna: Penny Sofroniadou
Figaro: Tommaso Barea
Cherubino: Georgy Kudrenko (ohne Gesang, nur Pantomime)
Cherubina (Susan Zarrabi)
Marcelina: Karolina Gumos
Bartolo: Tijd Faveyts
Basilio: Johannes Kunz
Antonio: Peter Lobert
Bilderserie mit 10 Fotos von âLe nozze di Figaroâ:
English text
Premiere of Le Nozze di Figaro at the Komische Oper Berlin
By Holger Jacobs
Rating đ đ đ đ (four of five)
Lots of sex and naked skin at the premiere on Saturday evening in the Schiller Theater
The three so-called âDa Ponte operasâ that the librettist LORENZO DA PONTE (1749 â 1838) wrote for WOLFGANG AMADEUS MOZART are today considered to be one of the most important in all of opera literature.
They are constantly being reinterpreted and are performed at all the major opera houses in the world.
The entire cycle, similar to the four operas of âRing der Nibelungenâ by RICHARD WAGNER (written between 1848 and 1874), is often staged one after the other at an opera house.
This is what happened in recent years at the Berlin State Opera under the musical direction of DANIEL BARENBOIM and the Patrice Chereau student VINCENT HUGUES (kultur24 reported).
Now this should also happen at the Komische Oper.
The Russian film and theater director KIRILL SEREBRENNIKOV will direct the Da Ponte Operas.
A year ago, SEREBRENNIKOV first premiered the opera âCosi Fan Tutteâ (kultur24 reported), now âLe nozze di Figaroâ and next year probably âDon Giovanniâ.
Kirill Serebrennikov
His person alone would be worth an entire article.
KIRILL SEREBRENNIKOV, born on September 7, 1969 in Rostov-on-Don, is definitely an exceptional artistic talent.
He staged theater performances as a student and later became the director of an amateur theater in his hometown.
From 1998, SEREBRENNIKOV lived in Moscow and directed theater, opera and ballet at the Mariinsky and Bolshoi Theaters.
In the mid-2000s he was invited to the Vienna Festival and the Avignon Festival and, as a director of feature films, to the Cannes and Locarno film festivals.
SEREBRENNIKOV will be back at Cannes this year with a new film. Title: âLimonovâ.
He became politically explosive when the conservative cultural authorities in Moscow learned that SEREBRENNIKOV was openly homosexual and often discussed this in his productions.
In 2017 he was arrested for the first time and put behind bars for absurd reasons, similar to those of political opponents.
Nevertheless, while in custody he was able to stage several productions in other European countries through video broadcasts.
For example, Mozart’s „Cosi Fan Tutte“ at the Zurich Opera House in 2018 (this production was taken over by the Komische Oper in Berlin in March 2023) and Wagner’s „Parsifal“ in Vienna in 2019.
In 2020 he was finally sentenced to six years in a camp, but this was commuted to probation with house arrest.
Even in this situation, he directed at various houses via video conference. For example in âOutsideâ at the Berlin SchaubĂŒhne and in Shostakovichâs âThe Noseâ at the Bavarian State Opera in 2021.
In January 2022 he was unexpectedly able to escape from Russia and has been living in Berlin since then.
Le nozze di Figaro (Figaro’s Wedding)
This play, originally written by the Frenchman BEAUMARCHAIS in 1778, was adapted into an opera by DA PONTE for WOLFGANG AMADEUS MOZART.
The comedy takes place at the court of the Spanish Count Almaviva around 1780.
The Count’s valet Figaro is about to marry Susanna, Countess Almaviva’s maid.
Although the count had waived the then usual âius primae noctisâ, the right to the first night with the bride of one of his servants.
But he is still completely crazy about Susanna and desperately wants to win her love.
Meanwhile, the love intoxicated servant Cherubino has nothing better to do than turn on every female in the Count’s entourage, even the Countess and Susanna.
When the Count discovers this, Cherubino is banished to the army.
Figaro comes up with a plan to thwart the Count’s attempts to get closer to his Susanna. And the jealous Countess Almaviva seeks revenge.
Here my little video on kultur24 TV with excerpts of the 1. and 2. act:
Critics
Similar to his production of âCosi Fan Tutteâ, KIRILL SEREBRENNIKOV divided the stage into an upper and a lower half.
While in âCosi Fan Tutteâ there are only two fitness rooms (the men training below, for women above), two different worlds are shown in âLe nozze di Figaroâ:Â Above, the rich lordship in a cool salon clad only in art.
Downstairs, the servants in narrow rooms filled with lots of junk, washing machines and ironing tables.
What sets SEREBRENNIKOV’s direction apart is the speed of his productions.
Everything happens in quick succession here.
Even when a person sings long arias, something else is happening on another level.
Or he inserts an additional person into the story.
SEREBRENNIKOV’S special idea for „Le nozze di Figaro“ lies in the splitting of the servant Cherubino into – first – a pantomime (greatly „played“ by the Russian film and theater actor Georgy Kudrenko) and – second – a singer named Cherubina (bravoidly Susan Zarrabi).
Since the role of Mozart’s Cherubino was intended for a mezzo-soprano singer in a trouser role, the idea fits very well.
So while Cherubina sings beautiful arias, Cherubino dances, does gymnastics and turns on women – more or less naked.
The second good idea was to cast the Greek-born PENNY SOFRONIADOU in the main role of Susanna.
She has a great, wide-ranging voice, despite her thin body.
The fact that she also has an attractive appearance only benefits its overall performance.
PENNY SOFRONIADOU has been part of the Komische Oper ensemble since 2022.
She already sang Fiordiligi in âCosi Fan Tutteâ.
PENNY SOFRONIADOU won the DAPHNE Prize in 2023 for outstanding artistic representation in Berlin’s cultural life.
And in 2018 she won the Berlin Opera Prize in the national singing competition.
As a counterpart to Susanna, TOMMASO BAREA is also her groom Figaro, a handsome bass-baritone with long hair and Italian flair.
His voice is okay, but not great.
Particularly noteworthy is HUBERT ZAPIOR as Count Almaviva.
A beautiful baritone with a sonorous voice.
After the furious beginning in Act 1 and Act 2, things get a little weaker after the break.
Not that nothing would happen on stage anymore.
But the plot spirals out of control.
Suddenly a hired murderer appears and kills the wedding guests. And huge sculptures in silver chrome are carried into the loft of the chic masters, leading to a jumble of scenes and people.
In between, the arias of Figaro âTutte e Dispostoâ and Susanna âGiunse Alfin il momentoâ, which spread boredom because they do not advance the piece either musically or dramaturgically.
In the end, the viewer no longer knows who – well – ripped off whom.
A general chaos breaks out.
My neighbor said âOverdone,â which describes this moment in the production quite well.
Sometimes a cell phone ringtone is to hear, played by the harpsichord and some of the people involved start making phone calls or writing text messages.
Conclusion: A fast-paced opera comedy with lots of eroticism, acrobatics, beautiful people and beautiful voices.
If KIRILL SEREBRENNIKOV had taken a step back in the second part, it would have been better.
„Le Nozze di Figaro“ at the Komische Oper Berlin
The premiere was on April 27, 2024
Musical direction: James Gaffigan
Production, set design and costumes: Kirill Serebrennikov
Count Almaviva: Hubert Zapior
Countess Almaviva (Rosina): Nadja Mchantaf
Susanna: Penny Sofroniadou
Figaro: Tommaso Barea
Cherubino: Georgy Kudrenko (no singing, just pantomime)
Cherubina (Susan Zarrabi)
Marcelina: Karolina Gumos
Bartolo: Tijd Faveyts
Basilio: Johannes Kunz
Antonio: Peter Lobert
Picture series with 10 photos from âLe nozze di Figaroâ:
Author: Holger Jacobs
Founder & Editorial Director of kultur24.berlin ug.
Founder & Editorial Director of kultur24 TV on Youtube.
Former correspondent for fashion in Paris.
Photographer, writer and filmmaker.