YAYOI KUSAMA: Eine Retrospektive
„A Bouquet of Love I Saw in the Universe“
Von Holger Jacobs
29.04.2021
Wertung: 🙂 🙂 🙂 🙂 🙂 (fünf von fünf)
Die beste Ausstellung seit langem in Berlin:
Das umfassende Werk der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama mit ihren wichtigsten Arbeiten aus acht Jahrzehnten.
Wie ich zu meiner Schande gestehen muss, kannte ich Yayoi Kusama’s Kunst lange nicht. Selbst auf großen, internationalen Ausstellungen waren ihr Werke nie zu sehen und lange Zeit hatte kein großes Museum in Europa Werke von Kusama in ihren Sammlungen.
Aus heutiger Sicht unverständlich.
Vielleicht aber waren ihre ersten, sehr schlichten, monochromen Bilder mit gleichmäßig verteilten Punkten, welche sie „Infinity Nets“ nannte, auch einfach keine Eye-Catcher.
Die immense künstlerische Kraft von Yayoi Kusama erschließt sich nämlich erst dann, wenn der Interessierte sich auf die Gesamtheit ihrer Fantasiewelt einlässt.
So wie jetzt zu sehen in der Retrospektive im Martin-Gropius-Bau.
Yayoi Kusama
Geboren am 22. März 1929 in Matsumoto, Japan, wuchs Yayoi Kusama in strenger japanischer Tradition während der faschistoiden Kaiserzeit vor dem 2. Weltkrieg auf. Schon mit 12 Jahren musste sie in einer Fabrik für die japanische Kriegsmaschinerie arbeiten. In dieser Zeit erkrankte Yayoi Kusama an psychischen Störungen, die sie bis heute verfolgen.
Nach Yayoi Kusama’s eigener Aussage fing sie in frühester Jugend an Halluzinationen zu entwickeln, in der sich die Welt um sie herum und sie selbst sich in Punkten auflöste. In ihren Träumen nahm sie Lichtblitze war und bei Tag sah sie die Punkte der Tischdecke sich über Möbel, Wände, Decke und schließlich über das ganze Zimmer ausbreiten. Sie nahm diese Wahrnehmung für ihre Kunst auf und entwickelte daraus zunächst die „Infinity Nets“ (unendliche Netzstrukturen) und später die Polca Dots (sich gleichmäßig wiederholende Punkte in schneller Folge), die sie auf alles Mögliche malte, sowohl auf Leinwände, wie auch auf menschliche Körper.
Weitere Entwicklungen beinhalteten die Aggregation (Verdichtung) und Accumulation (Ansammlung) von Gegenständen, sowie die Obliteration (Auflösung) von sich selbst im Universum.
Das Kunst eine Form der Therapie bei psychischen Krankheiten sein kann und sich dabei herausragende Talente entwickeln können, kennen wir aus der Kunstgeschichte zuhauf. Eines der wohl bekanntesten Beispiele ist natürlich Vincent van Gogh.
Nach Ende des 2. Weltkrieges ging Yayoi Kusama an eine Kunstschule in Kyoto. Erste Ausstellungen brachten erste kleine Erfolge. Während sie in Japan als weibliche Künstlerin aber fast völlig missachtet wurde, kam frohe Botschaft aus der Neuen Welt: 1955 zeigte das Brooklyn Museum of Art in New York zum ersten Mal ihre Arbeiten.
Ab 1957 zog sie dann ganz nach New York.
Yayoi Kusama’s Kunst
Yayoi Kusama’s Kunst zeichnet sich durch ihre große Vielfalt an Materialien, Formen und Disziplinen aus. Sie malt auf Leinwand, sie installiert Räume, sie schafft Environments, sie organisiert Happenings, sie kreiert Mode und sie performt. Kaum eine Kunstrichtung, die sie auslässt.
Ihren Stil könnte man zu Recht als POP ART bezeichnen, wenn er überhaupt zu kategorisieren ist. Aber ihre Liebe zu schrillen Farben, wilden Party-ähnlichen Happenings, Benutzung von Alltagsgegenständen und die Selbstvermarktung durch das demonstrative eigene Auftreten in ihren Performances sind typische Merkmale der Kunst der 60er Jahre. In New York wurde sie in Ausstellungen deshalb auch häufig zusammen mit Andy Warhol gezeigt.
Eines von Yayoi Kusama’s Persönlichkeitsmerkmalen ist ihr starker Durchsetzungswillen. In New York wurde sie in ihren Anfängen dadurch bekannt, dass sie mit ihren Bildern von Galerie zu Galerie zog, um irgendwo endlich ausgestellt werden zu können.
Das zweite Persönlichkeitsmerkmal von Yayoi Kusama ist ihr Umgang mit Sexualität.
In ihrer Jungend von der Mutter dazu benutzt, ihrem Vater bei seinen Seitensprüngen nachzuspionieren, entwickelte sie einen sehr eigenen Zugang zur Geschlechtlichkeit. Schon früh fing sie an aus Stoff Wülste zu nähen, die wie Penisse aussahen. Ihre erste Installation „One Thousand boats“ in der Gertrude Stein Gallery in New York 1961 bestand aus einem alten Boot, welches sie mit Hunderten von genähten Stoff-Phalli überzog. Dazu setzte sie sich nackt auf den Bootsrand (siehe dazu unsere Bilderserie weiter unten).
Oder der „Dressing Table“, den sie über Jahrzehnte weiterentwickelte. Die Arbeit besteht aus einem Schminktisch, der übersäht ist mit Penissen aus silbernem Stoff. In den Folgejahren überzog sie auch einen dazugehörigen Stuhl und beistehende Schuhe mit weiteren Phalli (die ich besonders sexy finde…).
Seht dazu auch mein Video der Ausstellung auf kultur24 TV:
Zusammenarbeit mit Louis Vuitton
Mein erster Kontakt mit Yayoi Kusama’s Kunst hatte ich auf eine eher banale Art.
Im Sommer 2012 schlenderte ich an der Louis Vuitton Boutique in Kampen auf der Insel Sylt vorbei. Sofort fiel mir ein neues Design auf, welches sich als Muster auf allen neuen Handtaschen von Louis Vuitton zeigte: Schwarze Punkte auf farbigem Grund. Das kam schon einer Sensation gleich, den über Jahrzehnte hatte sich das typische Louis Vuitton Blumenmuster nicht geändert.
Ich erkundigte mich nach dem neuen Design und erfuhr, dass der damalige Kreativ-Direktor von Louis Vuitton, MARC JACOBS, eine japanische Künstlerin mit Namen Yayoi Kusama engagiert hatte, um ein neues Design zu kreieren.
Der Erfolg war immens. Obwohl wie immer sehr hochpreisig, verkauften sich die Teile wie „geschnitten Brot“, besonders in Asien.
Das Luxus-Kaufhaus SELFRIDGES in London richtete für diese Kollektion sogar einen eigenen Concept-Store ein, designed by Kusama.
Die Ausstellung
Die Leiter des Martin-Gropius-Baus, der zur Organisation der BERLINER FESTSPIELE gehört (u.a. März-Musik, Musikfest Berlin, Jazz-Festival, BERLINALE) haben immer schon ein gutes Händchen für besonders spektakuläre Shows gehabt: Ob es die Ausstellungen von „DAVID BOWIE“ oder „PIET MONDRIAN“ im Jahr 2015 waren oder „LEE MILLER“ (2016) und „JÜRGEN TELLER“ (2017), bis zum wunderbaren „GARTEN DER IRDISCHEN FREUDEN“ im Jahre 2019 – immer hat sich ein Ausstellungsbesuch gelohnt!
Auch bei der Retrospektive von YAYOI KUSAMA hat die jetzige Direktorin Stephanie Rosenthal eine überzeugende Arbeit geleistet: Auf 3000 qm (das ganze obere Stockwerk) werden an die 300 Objekte aus jeder Station von Kusama’s künstlerischem Schaffen gezeigt, dazu ein ganz neuer „Infinity Room“ von 2021. Und natürlich die gigantischen, 10 Meter hohen Tentakel im Innenhof des Gebäudes.
Die Ausstellung wurde zusammen mit dem Museum Ludwig in Köln und der Fondation Beyerle entwickelt. Leider wurden die Ausstellungen in Köln und Basel, die jetzt eigentlich im Herbst hätten stattfinden sollen, Corona-bedingt abgesagt.
Berlin bleibt also zunächst die einzige Station der Retrospektive.
„Yayoi Kusama: Eine Retrospektive“
Martin-Gropius-Bau Berlin
Niederkirchnerstraße 7
10963 Berlin
23. April bis 15. August 2021
Tickets nur mit Zeitfenster
Mi-Mo 10-19 Uhr, Di geschlossen
Unsere Bilderserie mit 18 Arbeiten der Ausstellung:
English text
YAYOI KUSAMA: A retrospective
By Holger Jacobs
Rating: 🙂 🙂 🙂 🙂 🙂 (five out of five)
The best exhibition in Berlin for a long time: The comprehensive work of the Japanese artist Yayoi Kusama with her most important works from 8 decades.
As I must admit to my shame, I didn’t know Yayoi Kusama for a long time.
Even at international exhibitions she was never presented and for a long time no big museum in Europe had works by Kusama in their collections.
From today’s perspective incomprehensible.
Maybe it just hadn’t caught my eye at one of those numerous exhibitions I went to in the 80s and 90s.
No wonder, since her first works were very simple, monochrome pictures with regulary distributed points, which she called „Infinity Nets“.
Not a real eye-catcher on its own.
The immense artistic power of Yayoi Kusama only becomes apparent when the interested art friend engages in her almost inexhaustible fantasy world.
Just as you can see now in the retrospective in the Martin-Gropius-Bau.
Yayoi Kusama
Born on March 22nd, 1929 in Matsumoto, Japan, Yayoi Kusama grew up in strict Japanese tradition during the fascist imperial era before World War II.
At the age of 12 she had to work in a factory for the Japanese war machine. During this time, Yayoi Kusama first developed mental disorders, which she continues to persecute to this day.
According to Yayoi Kusama’s own statement, she began to became hallucinations in which the world around her and herself dissolved into dots. In her dreams she saw flashes of light and during the day she saw the dots on the tablecloth extended over the furniture, walls, ceiling and finally over the whole room.
She took up this perception for her art and developed from it the first „Infinity Nets“ (infinite network structures) and later the Polca Dots (evenly repeating points in quick succession), which she painted on everything possible, as well on canvases and as on human bodies.
Further developments included the aggregation (compression) and accumulation (accumulation) of objects, as well as the obliteration (dissolution) of oneself in the universe.
We know from the history that art can be a form of therapy for mental illnesses and that outstanding talents can develop in the process.
One of the most famous examples is of course Vincent van Gogh.
After the end of World War II, Yayoi Kusama went to an art school in Kyoto. First exhibitions brought first successes. While she was completely disregarded as a female artist in Japan, good news came from the New World: in 1955 the Brooklyn Museum of Art in New York showed her work for the first time. From 1957, she then moved entirely to New York.
Yayoi Kusama’s art
Yayoi Kusama’s art is characterized by its great variety of materials, shapes and disciplines. She paints on canvas, she installs rooms, she creates environments, she organizes happenings, she creates fashion and she performs.
There is hardly an art movement that she leaves out.
Her style could rightly be called POP ART, if it can be categorized at all. But her love for flashy colors, wild party-like happenings, the use of everyday objects and the self-marketing through the demonstrative own appearance in her performances are typical features of the art of the 60s.
In New York she was therefore often shown in exhibitions together with Andy Warhol.
One of Yayoi Kusama’s personality traits is her strong will to assert herself. In her early days in New York she became known for moving her pictures from gallery to gallery in order to finally be able to be exhibited somewhere.
The second personality trait of Yayoi Kusama is her way of dealing with sexuality. In her youth, she were used by her mother to spy on her father’s affairs, when she developed a very personal approach to sexuality. At an early age she began to sew beads of fabric that looked like penises.
Her first installation “One Thousand Boats” in the Gertrude Stein Gallery in New York in 1961 consisted of an old boat, which she covered with hundreds of sewn fabric phalluses.
Overall, she sat naked on the edge of the boat (see our series of pictures below).
Or the “dressing table”, which she has been developing over the decades. The work consists of a dressing table, which is covered with penises made of silver fabric. In the following years she also covered a chair and accompanying shoes with further phalluses (which I find particularly sexy …).
See also my video of the exhibition:
Collaboration with Louis Vuitton
I had my first contact with Yayoi Kusama’s art in a rather banal way.
In summer 2012 I strolled past the Louis Vuitton boutique in Kampen on the island of Sylt. I immediately noticed a new design, which was shown as a pattern on all new handbags from Louis Vuitton: black dots on a colored background. That was a sensation, as the typical Louis Vuitton flower pattern hadn’t changed for decades.
I inquired about the new design and learned that the then creative director of Louis Vuitton, MARC JACOBS, had hired a Japanese artist by the name of Yayoi Kusama to create a new design.
The success was immense. Although, as always, very expensive, the pieces sold like “sliced bread”, especially in Asia.
The luxury department store SELFRIDGES in London even set up a concept store for this collection, designed by Kusama.
The exhibition
The directors of the Martin-Gropius-Bau, which is part of the organization of the BERLINER FESTSPIELE (including March Music, Berlin Music Festival, Jazz Festival, BERLINALE-Filmfestival) have always had a good hand for particularly spectacular exhibitions:
Whether it was the great “DAVID BOWIE“ or „PIET MONDRIAN“ exhibitions in 2015, or „LEE MILLER“ (2016) and „JÜRGEN TELLER“ (2017), to the wonderful „GARDEN OF EARTHLY JOY „ in 2019 – a visit to the exhibition was always worthwhile!
Also at the retrospective of YAYOI KUSAMA, the current director Stephanie Rosenthal did a great job: On 3000 square meters (the whole upper floor) around 300 objects from every station of her artistic work are shown, plus a completely new „Infinity Room“ from 2021. And of course the gigantic, 10-meter-high tentacles in the building’s inner courtyard. The exhibition was developed together with the Museum Ludwig in Cologne and the Fondation Beyerle. Unfortunately, the exhibitions in Cologne and Basel, which should actually have taken place in autumn, were canceled due to the corona.
So Berlin remains the only stop of the retrospective for the time being.
Yayoi Kusama: A retrospective
Martin-Gropius-Bau Berlin
Niederkirchnerstraße 7
10963 Berlin
23. April bis 15. August 2021
Tickets only with time slots
Wed-Mon 10 a.m.-7 p.m., closed Tuesdays
My picture series of there exhibition:
Author: Holger Jacobs
Founder & Editorial Director of kultur24.berlin ug.
Founder & Editorial Director of kultur24 TV on Youtube.
Former correspondent for fashion in Paris.
Photographer, writer and filmmaker.